Die verborgene Wirklichkeit
I arbeiteten, gingen sie von einer kleinen Kopplung aus und stellten darauf aufbauend mehrstufige Berechnungen an, die der Analyse der Lotterie durch Bart und Lisa ähnelten. Genauso machten sie es bei der Arbeit mit der O-heterotischen Theorie oder einer der anderen Stringtheorien. Außerhalb des begrenzten Bereichs kleiner Werte für die Stringkopplung konnten die Wissenschaftler nicht viel mehr tun, als mit den Schultern zu zucken und einzuräumen, dass die von ihnen verwendeten mathematischen Verfahren nicht leistungsfähig genug waren, um zuverlässige Erkenntnisse zu liefern.
Dann jedoch, im Frühjahr 1995, rüttelte Edward Witten die Stringtheoretiker mit einer Reihe verblüffender Befunde auf. Aufbauend auf den Erkenntnissen von Wissenschaftlern wie Joe Polchinski, Michael Duff, Paul Townsend, Chris Hull, John Schwarz, Ashoke Sen und vielen anderen, gelangte er zu stichhaltigen Indizien dafür, dass es durchaus möglich sein sollte, über die Schranken der kleinen Kopplungskonstanten hinauszublicken. Wittens Hauptidee war einfach und folgenschwer: Wenn die Kopplungskonstante in irgendeiner Formulierung der Stringtheorie immer größer wird, verwandelt sich die Theorie – und das ist
wirklich bemerkenswert – bruchlos in etwas ganz und gar Vertrautes: in eine der anderen Formulierungen der Stringtheorie, allerdings so, dass dort die Kopplungskonstante gerade immer kleiner wird. Ist die Kopplungskonstante bei der Theorie des Typs I groß, dann verwandelt sich die Theorie in die O-heterotische Stringtheorie mit kleiner Kopplungskonstante. Demnach sind die fünf Stringtheorien in Wirklichkeit überhaupt nicht so verschieden. Die Theorien erscheinen nur dann unterschiedlich, wenn man von jeder Theorie nur einen kleinen Ausschnitt betrachtet, nämlich den Bereich mit kleiner Kopplungskonstante. Lässt man diese Beschränkung fallen, gehen die Stringtheorien nahtlos ineinander über.
Kürzlich stieß ich auf eine ausgezeichnete Grafik: Sie sieht aus der Nähe wie Albert Einstein aus, aus etwas größerer Entfernung wird sie zweideutig, und aus großer Distanz verwandelt sie sich in Marilyn Monroe ( Abbildung 5.2 ). Wer nur die beiden Anblicke kennt, die das Bild aus sehr geringem und aus großem Abstand bietet, hätte allen Grund zu der Annahme, dass es sich um zwei ganz verschiedene Fotos handelt. Betrachtet man das Bild jedoch aus allen möglichen Entfernungen, also auch in allen Zwischenstadien, so stellt man überraschenderweise fest, dass Einstein und Monroe Aspekte eines einzigen Porträts sind. Ganz ähnlich verhält es sich bei der Untersuchung zweier Stringtheorien: Im Extremfall, also wenn die Kopplungskonstante in beiden Theorien einen kleinen Wert hat, sehen sie so unterschiedlich aus wie Albert und Marilyn. Wer an dieser Stelle stehen bleibt, wie es die Stringtheoretiker jahrelang taten, gelangt zu dem Schluss, dass es sich um zwei verschiedene Theorien handelt. Untersucht man aber die Theorien bei allen möglichen, nicht nur bei besonders kleinen Werten, so stellt man fest, dass die eine so bruchlos in die andere übergeht wie Albert in Marilyn.
Die Verwandlung von Einstein in Monroe ist amüsant. Die Verwandlung der einen Stringtheorie in eine andere ist dagegen eine regelrechte Revolution. Sie hat eine entscheidende Konsequenz: Dort, wo man in der einen Stringtheorie keine störungstheoretischen Berechnungen vornehmen kann, weil die Kopplungskonstante zu groß ist, lassen sich die Berechnungen ohne Weiteres in die Sprache einer anderen Formulierung der Stringtheorie übersetzen, in der ein störungstheoretischer Ansatz Erfolg haben sollte, weil die Kopplungskonstante hinreichend klein ist. Einen solchen Übergang zwischen Theorien, die sich auf den ersten Blick unterscheiden, bezeichnet man in der Physik als Dualität . Dualitäten zählen mittlerweile zu den fruchtbarsten Forschungsthemen der modernen Stringtheorie-Forschung. Da die Dualität zwei mathematische Beschreibungen für ein und denselben physikalischen Gegenstand liefert, verdoppelt sich unser Arsenal an Berechnungsmethoden. Rechnungen, die aus der einen
Perspektive zu schwierig und deshalb praktisch unmöglich sind, werden aus der anderen durchaus machbar. j
Abbildung 5.2 Aus der Nähe betrachtet, scheint das Bild Albert Einstein darzustellen. Aus größerer Entfernung sieht es aus wie Marilyn Monroe. (Das Bild entwickelte Aude Oliva vom Massachusetts Institute of Technology.)
Nach Wittens Argumentation, die von anderen später
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