Die verborgene Wirklichkeit
wie durch Lisas Beitrag ein wenig abgewandelt oder »gestört«. Die Methode lässt sich ohne Weiteres verallgemeinern. Hätte Bart vor, in den nächsten zehn Wochen Lotto zu spielen, würde das Verfahren im ersten Schritt auf eine Gewinnchance von zehn zu einer Milliarde oder 0,00000001 schließen lassen. Aber wie in dem vorherigen Beispiel bezieht diese Näherungslösung Mehrfachgewinne nicht korrekt mit ein. Wenn Lisa sich der Sache annimmt, wird sie im zweiten Schritt zu Recht die Fälle berücksichtigen, in denen Bart zwei Mal gewinnt – beispielsweise in der ersten und zweiten Lotterie, oder in der ersten und dritten, oder in der zweiten und vierten. Jede diese Korrekturen hat, wie Lisa zuvor deutlich gemacht hat, den Wert eins zu einer Milliarde mal eins zu einer Milliarde. Es besteht aber auch die noch kleinere Chance, dass Bart drei Mal gewinnt; das berücksichtigt Lisa in einem dritten Schritt: Sie summiert Beiträge auf, deren Einzelwahrscheinlichkeit eins zu einer Miliarde, drei Mal mit sich selbst multipliziert, 0,000000000000000000000000001 entspricht. Im vierten Schritt tut sie das Gleiche für die noch winzigere Chance, vier Mal zu gewinnen, und so weiter. Jeder neuer Beitrag ist viel kleiner als der vorherige; irgendwann hält Lisa deshalb die Antwort für ausreichend genau und macht Feierabend.
Auf analoge Weise führt man Berechnungen in der Physik und auch in vielen anderen Wissenschaftsdisziplinen sehr häufig durch. Wenn man sich dafür interessiert, mit welcher Wahrscheinlichkeit zwei Teilchen zusammenprallen werden, wenn sie im Teilchenbeschleuniger LHC in entgegengesetzter Richtung fliegen, stellt man sich im ersten Schritt vor, dass sie einmal aufeinandertreffen und zurückprallen (wobei »treffen« nicht bedeutet, dass sie sich unmittelbar berühren, sondern dass ein einzelnes, Kraft tragendes »Geschoss«, beispielsweise ein Photon, von dem einen wegfliegt und vom anderen aufgenommen wird). Im zweiten Schritt berücksichtigt man die Wahrscheinlichkeit, dass die Teilchen zwei Mal aufeinandertreffen (so dass zwei Photonen zwischen ihnen ausgetauscht werden); im dritten Schritt wandelt man die beiden ersten ab, indem man auch die Chance einrechnet, dass die Teilchen sich drei Mal treffen, und so
weiter ( Abbildung 5.1 ). Wie im Fall der Lotterie funktioniert dieser störungstheoretische Ansatz gut, wenn die Wahrscheinlichkeit mit jeder größeren Anzahl von Teilchen-Wechselwirkungen – entsprechend der Chance auf eine immer größere Zahl von Lotteriegewinnen – sehr rasch abnimmt.
Abbildung 5.1 Zwei Teilchen fliegen aufeinander zu (dargestellt als jeweils zwei gerade Linien links in den Diagrammen), interagieren, indem sie verschiedene »Geschosse« aufeinander abfeuern (die »Geschosse« sind Kraft tragende Teilchen, dargestellt durch geschlängelte Linien), und fliegen anschließend auseinander (die geraden Linien rechts in jedem Diagramm). Alle Diagramme tragen zu der Gesamtwahrscheinlichkeit bei, dass die Teilchen aufeinandertreffen. Prozesse liefern dabei umso kleinere Beiträge, je mehr »Geschosse« im Spiel sind.
In der Lotterie beruht der Rückgang der Wahrscheinlichkeiten darauf, dass jeder weitere Gewinn einen Faktor von eins zu einer Milliarde beisteuert; in dem Beispiel aus der Physik ergibt er sich, weil jedes zusätzliche Treffen mit einem Zahlenfaktor, der sogenannten Kopplungskonstante , verbunden ist, dessen Wert etwas über die Wahrscheinlichkeit besagt, dass ein Teilchen ein Kraft tragendes Geschoss abfeuert und dass das zweite es aufnimmt. Für Teilchen wie die Elektronen, für die die elektromagnetische Kraft gilt, hat man den Wert der Kopplungskonstante, die sich mit Photonengeschossen verbindet, mit ungefähr 0,0073 ermittelt. 2 Neutrinos unterliegen nur der schwachen Kernkraft, und bei der liegt die Kopplungskonstante bei ungefähr 10 – 6 . Für Quarks, Bestandteile der Protonen, die durch den LHC rasen und deren Wechselwirkungen von der starken Kernkraft bestimmt werden, ist die Kopplungskonstante nur etwas kleiner als eins. Diese Zahlen sind nicht so klein wie die 0,000000001 bei der Lotterie, aber wenn wir beispielsweise 0,0073 mit sich selbst multiplizieren, wird das Ergebnis schnell winzig klein. Nach einem Durchgang beträgt es ungefähr 0,0000533, nach dem zweiten 0,000000389. Aus diesem Grund nehmen Theoretiker nur selten die Mühe auf sich, mehrfache Zusammenstöße von Elektronen in die Berechnungen einzubeziehen. Solche Berechnungen mit mehreren
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