Die verborgene Wirklichkeit
Wunder: Nimmt man diese Näherung vor, dann übersieht man eine Raumdimension der Theorie. Den Grund machte Witten deutlich: Die Größe der Stringkopplung bestimmt unmittelbar über die Größe der bis dahin unbekannten zehnten Raumdimension. Als die Wissenschaftler für die Kopplungskonstante einen kleinen Wert gewählt hatten, hatten sie unwissentlich auch diese Raumdimension verkleinert – sie war so klein, dass sie auch für die Mathematik selbst nicht mehr zu erkennen war. Mit den genaueren Methoden konnte man genauer hinsehen, und dann offenbarte die String-/M-Theorie ein Universum mit zehn Raumdimensionen und einer Zeitdimension, so dass man für die Raumzeit insgesamt auf elf Dimensionen kommt.
Ich erinnere mich noch gut an die allenthalben verstörten Blicke und weit aufgerissenen Augen, als Witten auf der internationalen Stringtheorie-Tagung 1995 an der University of Southern California zum ersten Mal einige seiner Befunde vorstellte und damit die zweite Stringtheorie-Revolution auslöste, wie sie heute genannt wird. l Für unsere Geschichte vom Multiversum sind die Branen von entscheidender Bedeutung, denn sie führten die Wissenschaftler auf direktem Wege zu einer weiteren Variante von Paralleluniversen.
Branen und Parallelwelten
In der Regel stellen wir uns Strings als ungeheuer klein vor; gerade diese Eigenschaft macht die Überprüfung der Theorie ja so schwierig. Wie ich aber schon in Kapitel 4 festgestellt habe, sind Strings nicht zwangsläufig so winzig. Die Länge eines Strings wird vielmehr durch seine Energie bestimmt. Mit der Masse von Elektronen, Quarks und den anderen bekannten Teilchen sind so kleine Energiemengen verbunden, dass die zugehörigen Strings tatsächlich winzig wären. Führt man einem String aber genügend Energie zu, kann man erreichen, dass er sich in die Länge zieht. Hier auf der Erde haben wir nirgendwo auch nur annähernd die Möglichkeiten, so etwas zu bewerkstelligen, aber diese Begrenzung spiegelt keine grundlegende Einschränkung, sondern lediglich den Stand unserer technischen Entwicklung wider. Wenn die Stringtheorie stimmt, könnte eine fortgeschrittene Zivilisation die Strings im Prinzip zu jeder beliebigen Größe auseinanderziehen. Auch natürliche Phänomene im Kosmos sind in der Lage, lange Strings zu erzeugen; diese können sich beispielsweise um einen Teil des Raumes wickeln und dann infolge der kosmischen Expansion in die Länge gezogen werden. Einer der in Tabelle 4.1 skizzierten experimentellen Ansätze zur Überprüfung der Theorie besteht in der Suche nach Gravitationswellen, die von solchen langen, vibrierenden Strings irgendwo dort draußen im Kosmos ausgesandt werden.
Wie die Strings, so können auch die höherdimensionalen Branen eine beträchtliche Ausdehnung besitzen. Damit eröffnet sich ein völlig neuer Weg, wie die Stringtheorie den Kosmos beschreiben kann. Um zu verstehen, was ich damit meine, stellen wir uns zuerst einen langen String vor: Er ist so lang wie ein Hochspannungskabel, das sich so weit erstreckt, wie das Auge reicht. Als Nächstes stellen wir uns eine große Zwei-Bran vor, ähnlich einem riesigen Tischtuch oder einer gewaltigen Fahne, deren Fläche sich unendlich weit erstreckt. Beide können wir uns leicht vorstellen, weil wir sie vor unserem geistigen Auge in die drei Dimensionen unserer Alltagswelt einbetten können.
Anders sieht die Sache aus, wenn es um eine riesengroße, ja vielleicht sogar unendlich große Drei-Bran geht. Eine solche Drei-Bran würde den Raum, in dem wir leben, ausfüllen wie Wasser ein riesiges Aquarium. Eine solche Allgegenwart legt die Vermutung nahe, dass wir uns die Drei-Bran nicht als Objekt vor Augen halten sollten, das sich zufällig in unseren drei Raumdimensionen befindet, sondern als das Substrat des Raumes selbst. Wie ein Fisch, der das Wasser bewohnt, würden wir demnach eine raumfüllende Drei-Bran bewohnen. Raum – zumindest der Raum, in dem wir unmittelbar zu Hause sind – wäre dann viel körperlicher, als wir es uns gewöhnlich vorstellen. Der Raum wäre ein Ding, ein Objekt,
ein Gebilde – eben eine Drei-Bran. Wenn wir laufen und gehen, wenn wir leben und atmen, bewegen wir uns in einer Drei-Bran und durch sie hindurch. Stringtheoretiker sprechen deshalb vom Branwelt-Szenario .
An dieser Stelle lässt die Stringtheorie die Paralleluniversen zum Zuge kommen.
Ich habe mich hier auf die Beziehung zwischen Drei-Branen und den drei Raumdimensionen konzentriert, weil ich eine
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