Die verborgene Wirklichkeit
der Belgier Georges Lemaître ihm erklärte, die Gleichungen der Allgemeinen Relativitätstheorie, die Einstein mehr als ein Jahrzehnt zuvor veröffentlicht hatte, bedeuteten einen dramatischen Umbruch und man müsse die Schöpfungsgeschichte neu schreiben. In Lemaîtres Modell war das Universum am Anfang ein winziger Brocken von ungeheurer Dichte, ein »Uratom«, wie er es später nannte, das über gewaltige Zeiträume hinweg gewachsen und so zu dem Kosmos geworden war, den wir heute beobachten.
Lemaître war unter den Dutzenden angesehenen Physikern eine ungewöhnliche Erscheinung; das Gleiche galt für Einstein, der für eine Woche ins Hotel Metropole in Brüssel gekommen war, um eingehend über die Quantentheorie zu diskutieren. Im Jahr 1923 hatte Lemaître nicht nur seine Doktorarbeit abgeschlossen, sondern auch seine Studien am Seminar Saint Rombaut, und man hatte ihn zum Jesuitenpater geweiht. Während einer Konferenzpause wandte er sich, den Priesterkragen umgelegt, an den Mann, dessen Gleichungen nach Lemaîtres Überzeugung die Grundlage einer neuen wissenschaftlichen Theorie für den Ursprung des Kosmos bildeten. Einstein kannte die Theorie des Belgiers: Er hatte dessen Artikel über das Thema einige Monate zuvor gelesen und konnte in den Operationen, die er mit den Gleichungen der Allgemeinen Relativitätstheorie vorgenommen hatte, keinen Fehler finden. Es war auch nicht das erste Mal, dass Einstein von derartigen Befunden erfuhr. Der russische Mathematiker und Meteorologe Alexander Friedmann war schon 1921 auf eine Lösung für Einsteins Gleichungen gestoßen, in der der Raum sich mit der Zeit ausdehnte, das Universum als Ganzes also expandierte. Einstein schreckte vor diesen Lösungen zurück und hatte zunächst bestimmte Fehler in Friedmanns Berechnungen angemahnt. Damit hatte er Unrecht, und später zog er seine Behauptung zurück.
Aber Einstein wollte nicht die Marionette der Mathematik sein. Deshalb manipulierte er die Gleichungen im Sinne seiner intuitiven Vorstellungen davon, wie der Kosmos sein sollte : Er war zutiefst überzeugt, das Universum sei ewig und im größten Maßstab fest und unveränderlich. Das Universum, so belehrte Einstein den Belgier, dehne sich nicht aus und habe sich nie ausgedehnt.
Sechs Jahre später hörte Einstein in einem Seminarraum der Mount-Wilson-Sternwarte in Kalifornien konzentriert zu, als Lemaître eine genauer ausgearbeitete Version seiner Theorie erläuterte: Danach hatte das Universum in einem Urblitz seinen Anfang genommen, und die Galaxien waren brennende Holzscheite, die auf einem anschwellenden Meer des Raumes schwammen. Als das Seminar zu Ende ging, stand Einstein auf und erklärte, Lemaîtres Theorie sei die »schönste und befriedigendste Erklärung für die Schöpfung, die ich jemals gehört habe«. 1 Der berühmteste Physiker der Welt hatte sich also überzeugen lassen und vertrat nun eine andere Ansicht über eines der schwierigsten Rätsel der Welt. Dem allgemeinen Publikum blieb Lemaître weitgehend unbekannt, unter Wissenschaftlern aber gilt er als Vater des Urknalls.
Die Allgemeine Relativitätstheorie
Die von Friedmann und Lemaître entwickelten kosmologischen Modelle basierten auf einem Fachartikel, dessen Manuskript Einstein am 25. November 1915 an die deutsche Fachzeitschrift Annalen der Physik geschickt hatte. Es stellte den Abschluss einer nahezu zehnjährigen mathematischen Odyssee dar, und das darin formulierte Ergebnis – die Allgemeine Relativitätstheorie – sollte sich als Einsteins vollständigste und weitest reichende wissenschaftliche Leistung erweisen. In der Allgemeinen Relativitätstheorie gelang es Einstein, mithilfe einer eleganten geometrischen Sprache eine völlig neue Beschreibung der Gravitation zu formulieren. Wer mit den Grundlagen und kosmologischen Anwendungen der Theorie bereits vertraut ist, kann die nächsten Unterkapitel bis »Modelle und Daten« ohne Weiteres überspringen. Wer sich dagegen kurz noch einmal an die wichtigsten Punkte erinnern will, sollte hier weiterlesen.
Mit der Arbeit an der Allgemeinen Relativitätstheorie begann Einstein ungefähr 1907. Zu jener Zeit glaubten die meisten Wissenschaftler, die Gravitation sei durch die Arbeiten Isaac Newtons schon seit Langem erklärt. Wie Oberschüler auf der ganzen Welt lernen, formulierte Newton Ende des siebzehnten Jahrhunderts das nach ihm benannte Gravitationsgesetz, das die erste mathematische Beschreibung dieser altvertrauten Naturkraft
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