Die verborgenen Bande des Herzens
Schritte zählte. Ein Lastwagen, dessen Ladung gefährlich schief hing, donnerte mit quietschenden Reifen vorbei, viel zu schnell für die schmale Landstraße. Als er außer Sichtweite war, kehrte wieder Stille ein. Ein Fetzen pinkfarbenes Stanniolpapier glitzerte im Gras des Straßengrabens. Schokoladenpapier, das jemand weggeworfen hatte. Ein weißer Schmetterling, der es offenbar für eine Blume hielt, ließ sich mit zitternden Flügeln darauf nieder.
Ich versuchte mir vorzustellen, was sie alles denken mochten, sobald ihnen klargeworden war, dass ich sang- und klanglos von zu Hause weggegangen war. Nicht dass ich Heulen und Zähneknirschen erwartete. Alex wäre natürlich erst einmal geschockt. Und Stevie … nun ja, Stevie … gewiss, er war noch sehr jung, aber er hatte sich bereits von mir abgenabelt. Sein eigentliches Leben fand woanders statt. Er brauchte mich nicht mehr. Manchmal hatte ich den Eindruck, er sah glatt durch mich hindurch, als wäre ich Luft.
Ich hatte es als meine Aufgabe betrachtet, dafür zu sorgen, dass Alex und Stevie sich möglichst wenig in die Quere kamen, um des lieben Friedens willen. Was würde nun geschehen? Seltsamerweise nagte nicht wie sonst das Pflichtgefühl an mir. Ich fühlte mich nicht mehr zuständig. Die beiden würden einfach selber irgendwie einen Weg finden müssen, miteinander auszukommen.
Lily … Meine Schritte wurden langsamer. Bei dem Gedanken an Lily rührte sich mein schlechtes Gewissen auf das Heftigste. Sie war so hilflos. Ich blieb stehen, zögerte. Die Tatsache, dass ich dazu fähig war, sie im Stich zu lassen, erschütterte das Bild, das ich von mir hatte. Was war das nur für ein Mensch, der zu so etwas fähig war? Dann erinnerte ich mich daran, wie sie im Krankenhaus vom Bett aus mir nachgeschaut hatte. Dieser Blick war regelrecht durch mich hindurchgegangen, ins Leere. Sie erkannte mich nicht mehr. Und außerdem war Lily, ehrlich gesagt, schon seit Jahren tot. Sie existierte nicht mehr wirklich. Genau wie ich.
Sie zu Hause zu pflegen wäre unmöglich. Sie und Alex könnten nie unter einem Dach zusammenleben. Selbst wenn ich es versuchen wollte, würde ich nur Aufruhr heraufbeschwören, und davon hatte ich schon so viel gehabt, dass es für ein ganzes Leben reichte. Nein, das einzig Wahre war, alle diese Menschen in einen Karton zu stecken, ihn fest zu verschnüren und auf dem Dachboden meiner Gedanken abzustellen, wo er allmählich eine bequeme Staubschicht ansammeln konnte.
Ich kann nichts mehr für diese Menschen tun. Deshalb ist es in Ordnung wegzugehen. Ich kann ihnen nicht helfen. Sie sind besser daran, wenn ich weg bin. Alex wird eine angemessene Zeit verstreichen und mich dann für tot erklären lassen – damit er wieder heiraten kann –, und dieser Gedanke erfüllt mich mit Erleichterung. Carol Ann Matthews ist tot.
Geschäftsleute besuchen die Konditorei, sie trinken Kaffee und lesen Zeitung. Wie Alex. Mit welchen Frauen sie wohl verheiratet sind, frage ich mich? Sind es typische Hausfrauen und Mütter? Oder Frauen, die auf eigenen Füßen stehen? Die Emanzipation einer Frau steht und fällt mit ihrer finanziellen Situation. Dies wurde mir bewusst, als ich tags zuvor vor dem Laden des Buchmachers stand, meine Sinne bis aufs Äußerste geschärft. Der warme Teergeruch einer nahe gelegenen Baustelle kitzelte mir in der Nase. Die Hitze des Tages hatte sich verzogen, und meine Wangen brannten von der kalten Frühjahrsluft. Ich hörte ein Rumpeln, als ein Auto über irgendeinen Gullydeckel fuhr, ein Zischen, als ein Wasserschlauch auf eine Schaufensterscheibe gerichtet wurde, das ferne Tuten einer Sirene.
Wollen Sie wissen, wie es sich anfühlt, 28.560 Pfund in der Hand zu halten? Die Banknoten waren nagelneu und glatt und steif und ließen sich kaum blättern, weil das Papier noch nicht durch tausend Hände gegangen war. Die Enden der Scheine bogen sich nicht schlaff nach unten, wenn ich sie zwischen zwei Finger nahm. Die Farben wirkten künstlich. Ich bildete mir ein, frische Tinte zu riechen. Aber nichts von alledem ist von Belang, denn eigentlich ist das Gefühl, 28.560 Pfund in der Hand zu halten, ganz einfach zu beschreiben. Ich sage Ihnen, wie es sich anfühlt. Es fühlt sich nach Freiheit an.
Ich nahm den letzten Zug nach Glasgow. Es war schon Nacht, elf Uhr vorbei, als ich dort ankam, deshalb kaufte ich mir eine Zahnbürste in der Bahnhofsdrogerie, die durchgehend geöffnet hatte, und nahm mir in der Nähe ein Hotelzimmer. Ich
Weitere Kostenlose Bücher