Die verborgenen Bande des Herzens
musste mir an der Rezeption einen neuen Namen zulegen. Erst als ich schon zu schreiben begonnen hatte, fiel mir siedend heiß ein, dass ich meinen wirklichen Namen nicht angeben durfte. Ich hatte bereits »Ca«, für Carol Ann geschrieben, als ich erschrocken innehielt. Es wäre mir lieber gewesen, wenn ich etwas mehr Zeit gehabt hätte, mir etwas Passendes, Bedeutsames auszudenken. Doch nun musste ich mich ganz schnell entscheiden. Und so schrieb ich in die Zeile für den Vornamen Cara May, und als Nachnamen gab ich, wie ich zu meiner Beschämung gestehen muss, Smith an, denn das war der erste Name, der mir in meiner Panik in den Sinn kam. Zugegeben, reichlich phantasielos für einen Neuanfang. Wahrscheinlich könnte ich den Namen jederzeit wieder ändern, doch irgendwie hatte dieser Eintrag in das Gästeverzeichnis des Hotels für mich fast die gleiche Bedeutung wie das Ausfüllen einer Taufurkunde oder dergleichen. Ich hatte jedenfalls das Gefühl, mich nun auf eine neue Identität festgelegt zu haben: Cara May Smith.
In dem Waschbecken in dem Hotelzimmer wusch ich meine Unterwäsche aus und hängte sie zum Trocknen über den Heizkörper. Das Zimmer war einfach, aber immerhin gab es einen Fernseher, also schaltete ich ihn ein und legte mich aufs Bett. Höhepunkte des europäischen Fußballs. Ich zappte auf ein anderes Programm. Alex und Stevie würden sich wahrscheinlich die Sportsendung ansehen, aber natürlich nicht im selben Zimmer. Wäre ich noch daheim gewesen und beide Fernsehgeräte im Haus wären in Gebrauch, hätte ich ein Buch zur Hand genommen und gelesen.
Die lokalen Spätnachrichten flimmerten über den Bildschirm, und ich wurde ganz starr. Es machte mich nervös. Falls, nun ja, falls sie nun in den Nachrichten etwas darüber brächten, dass ich vermisst werde. Wie albern. Jeden Tag wird irgendwo wer vermisst. Die ganze Zeit. Jeden Tag gehen Tausende von Vermisstenanzeigen ein. Keinen Menschen auf der Welt interessiert es, dass Carol Ann Matthews verschwunden ist, und schon gar nicht würde diese Tatsache den Weg in die Nachrichten schaffen, oder? Und überhaupt ist es dafür noch zu früh. Dennoch schaltete ich den Fernseher aus. Ich habe den Stein ins Wasser geworfen, und nun will ich einfach nur zusehen, wie er spurlos verschwindet. Ich will keine Wellen sehen.
Ich muss aufhören über diese Frau, Carol Ann, nachzudenken, befehle ich mir. Ich finde sie ja nicht einmal besonders sympathisch. Ich werde sie ganz bestimmt nicht mitnehmen, sie wie eine große schwere Last auf meinem Rücken mit mir herumschleppen. Ich will weder über diese Frau weiter nachdenken noch über ihre Familie. Ich habe nichts mehr mit ihnen allen zu schaffen.
In jener ersten Nacht schlief ich nackt. Wie ein Neugeborenes. Der nächste Morgen fühlte sich an wie ein Neubeginn. Sie denken vielleicht, es macht einem Angst, in einer fremden Stadt aufzuwachen, ohne Gepäck, ohne eine Vorstellung, wo man am Abend sein würde. Aber ich hatte keine Angst. 28.560 Pfund sorgten dafür, dass ich keine hatte.
An jenem ersten Morgen ging ich noch vor dem Frühstück zu Marks & Spencer, weil ich mir neue Unterwäsche besorgen wollte. Doch dann verließ ich das Warenhaus wieder, ohne etwas gekauft zu haben. Carol Ann kauft dort ein. Ich kam zu dem Schluss, dass Cara May Smith nicht der Typ Frau ist, der Unterwäsche von Marks & Spencer trägt. Sich ein neues Leben, eine neue Identität aufzubauen ist etwas sehr Kreatives. Man muss es zugleich ernst nehmen. Jedes Detail ist von Bedeutung.
Ich ging in einen Dessousladen und tätigte dort meinen Einkauf. Weicher cremefarbener Satin, verziert mit üppiger Spitze und eingewebten Bändchen. French Knickers aus hauchdünner perlrosa Seide, nebst dem dazu passenden Balcony-BH, mit Trägern aus ineinander verflochtenen spaghettidünnen roséfarbenen Spitzenbändchen. Mitternachtsblauer Voile, mit hauchdünnen Silberfäden durchwebt, wie ein Meteorschauer in einer Winternacht. Die Verkäuferin wickelte die Wäsche sorgfältig in dunkelviolettes Seidenpapier, legte sie in eine violette Tragetasche mit schwarzen Griffen und packte noch ein paar Duftkügelchen dazu. Ich liebe es, mit dieser Tasche in der Hand herumzugehen, liebe es, wie das Papier leise raschelt, wenn sie schwingt und gegen mein Bein schlägt. Ich liebe das Gefühl, etwas Dekadentes in Seidenpapier verborgen mit mir herumzutragen. Ich bin eine Frau, die schöne Unterwäsche liebt.
Die Bedienung in der Konditorei mit ihren kurzen
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