Die verborgenen Bande des Herzens
Kapitel
Carol Ann
I ch kehre heim, als sich die ersten Schneeglöckchen, rein und weiß, durch die steinharte Erde schieben, eine Symphonie aus Zartheit und Robustheit. Ich pflücke einen kleinen Strauß davon zu Füßen des Japanischen Kirschbaums, für Josie. Ich mag keine in Zellophan gewickelten Gebinde vom Floristen. Keine Buketts aus hochgezüchteten Blumen, Treibhausblüten.
Stevie besitzt noch keinen Anzug, aber er hat, ohne dass ich ihn darum gebeten habe, auf die obligatorischen Turnschuhe verzichtet und stattdessen die Lederschuhe angezogen, die zu seiner Schuluniform gehören. Und er hat sich von Alex eine Krawatte ausgeliehen. Bei seinem Anblick durchströmt mich ein tiefes Gefühl der Liebe.
Lily trägt einen schicken Wollmantel, hat jedoch eine Fahne. Zum ersten Mal nach ihrem Schlaganfall, wie Alex mir versichert, als wollte er sie verteidigen. Lily wagt einen zaghaften Blick in meine Richtung, er zeugt von Scham, und Scham ist es auch, die unser Schweigen erfüllt. Mir fällt auf, dass sie meine Nähe meidet, vorn im Wagen Platz nimmt, als wollte sie bei Alex Zuflucht suchen. Sie setzt sich natürlich auf den Beifahrersitz, weil sie vorne im Auto ihr Bein besser bewegen kann. Niemand spricht, doch Stevie, der neben mir im Fond sitzt, nimmt meine Hand, drückt hin und wieder meine Finger. Als er das letzte Mal meine Hand hielt, war er noch ein kleiner Junge. Jetzt nimmt er sie um meinetwillen, nicht weil er die Berührung braucht. Es ist die Geste eines erwachsenen Mannes, doch sein Gesicht wirkt krank, spitz und blass, wie das eines Kindes.
Es ist das erste Mal, dass wir alle zusammen, als eine Familie, Josie besuchen. Es ist das erste Mal nach ihrem Tod, dass wir uns als eine Familie fühlen . Es ist ein Übergangsritus, ein Schritt nach vorn, zu einer neuen Art von Gemeinschaft. Das Handy in meiner Tasche vibriert. Ich habe den Klingelton abgestellt, weil ich weiß, wer der Anrufer sein wird. Michael. Und ich weiß, was er sagen wird. Komm zurück. Man kann nicht so ohne Weiteres ein Leben hinter sich lassen und das nächste beginnen.
An dem Morgen, nachdem Alex zu mir nach Irland gekommen war, ließ ich ihn schlafen und ging aus dem Haus. Draußen rief ich Michael an und hinterließ eine reichlich obskure, verworrene Nachricht auf seiner Mailbox, was ein Fehler war. Ich hätte warten und es ihm persönlich erklären sollen, aber mir blieb so wenig Zeit. Ich drängte ihn, so schnell wie möglich zu dem Strandhaus zu kommen. Ich war zu Fuß unterwegs, doch er fuhr mit dem Wagen hin und traf vor mir dort ein, stand am Fenster, während ich den Hügel hinaufging. Hinten bei den Dünen, zu Füßen der langen Halme des Strandhafers, war noch ein schmaler Streifen Schnee übrig geblieben, wie die Linie auf dem Sand, wenn die Flut sich zurückgezogen hat. Michael wandte sich nicht zu mir um, als ich ins Zimmer trat und abwartend stehen blieb.
»Du hast gelogen«, sagte er schließlich.
»Es tut mir leid.« Ich legte die Hand auf seinen Arm, aber er kehrte mir weiterhin den Rücken zu. »Michael, meine Situation war so verworren, ich hätte … ich hätte sie dir niemals erklären können.«
»Erklären wollen, meinst du.«
Er biss sich auf die Unterlippe, blickte zum Meer, das aufgewühlt, bleigrau und schäumend unter uns lag. Ich hörte, wie er schwer atmete vor Zorn.
»Ein Teil von mir möchte dich tatsächlich bitten zu bleiben«, sagte er mit bitterer Stimme.
»Ich kann nicht bleiben.«
»Und ich kann dich auch nicht bitten.« Jetzt drehte er sich zu mir um. »Ich wüsste nicht, an wen ich diese Bitte richten sollte. Diese Cara ist nichts als Lug und Trug.«
»Nicht alles an ihr.«
»Ich habe einen fiktiven Menschen geliebt.«
Geliebt? Oh mein Gott.
»Michael, ich mag dich wirklich sehr. Es ist die Wahrheit. Alles, was ich zu dir gesagt habe, was meine Gefühle dir gegenüber betrifft, war aufrichtig … es war nicht gelogen … es war …«
»Das hier«, sagte er und umfasste mit einer weiten Handbewegung das ganze Zimmer. »Ich dachte …«
Michael hatte meinen Traum mit mir geteilt, doch dieser Traum löste sich nun in Nichts auf, vor seinen Augen zerschmolz der zauberhafte Eiskristall zu einer trüben Pfütze.
»Ich wollte dir nie …«
Was wollte ich nie? Lügen? Ihn verletzen? Ein anderer Mensch werden? Aber ich wollte sehr wohl ein anderer Mensch werden. Ich wollte mir eine neue Identität schaffen, ein neues Leben beginnen. Doch dies brachte Auswirkungen mit sich, die ich
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