Die verborgenen Bande des Herzens
Chance.
50. Kapitel
Carol Ann
I m Cottage ist alles für die Abreise bereit. In der Diele steht ein Wust von Taschen und Plastiktüten. Es sieht wieder aus wie vorher, ein kahles, blank geputztes Ferienhäuschen, das auf neue Fingerabdrücke auf den Türklinken wartet, auf neue Geräusche, die wie Nebelschwaden vom Erdgeschoss aufsteigen und schließlich das ganze Haus erfüllen. Ich habe relativ einfach hier gelebt. Es gibt nicht viel, was ich mitnehmen will, abgesehen von meiner neuen Kleidung. Caras Kleidung. Wenn ich heimkomme, wird Carol Anns Kleiderschrank ausgeräumt werden. Während der Fahrt, Alex sitzt am Steuer, macht mein Handy pling. Eine SMS . Ich greife hinunter in die Tasche zu meinen Füßen, fische es heraus, und mein Herz macht einen Satz. Michael.
»Wer ist das?«, fragt Alex.
»Niemand, den du kennst.«
Normalerweise ist es Alex, der solche Antworten gibt.
Ein Schatten huscht über sein Gesicht. Was ich gesagt habe, entspricht der Wahrheit, zeigt ihm zugleich aber auch, dass er über mein neues Leben nichts weiß. Ein neuer Freund, eine Botschaft von ihm auf dem neuen Handy seiner Ehefrau, dessen Nummer er nicht einmal kennt. Vielleicht denkt Alex nun, ich lege es darauf an, ihm wehzutun, ihn zu bestrafen.
»Ein Freund«, sage ich und lege meine Hand auf seinen Arm. »Nur ein Freund.«
Ich drücke auf Öffnen.
Ein Wort.
Bleib.
Alex bleibt im Wagen sitzen, während ich Harry besuchen gehe. Schon an der Tür bin ich in Tränen aufgelöst.
»Cara«, sagt er und drückt mich an sich. »Cara.«
Sein Blick wandert hinüber zur Straße.
»Warum kommt Alex nicht mit rein?«
»Ich hole ihn gleich. Ich habe ihn gebeten, uns etwas Zeit zu geben.«
»Na, dann komm rein.«
Wir gehen in sein Wohnzimmer, und der Gedanke schießt mir durch den Kopf, ob es das letzte Mal ist. Ich glaube, Harry hat den gleichen Gedanken. Beide bleiben wir stehen.
»Du bist mir nicht böse?«, will Harry wissen.
»Frag mich das in einem Jahr noch mal.«
»Ich wollte mich zuerst nicht einmischen, Cara. Ich habe lange hin und her überlegt, aber … ich dachte einfach, du brauchst jemanden, der dir hilft.«
»Wie hast du Alex überhaupt gefunden?«
»Ich fuhr nach Belfast und ging in die Bibliothek. Hab mir im Internet die Artikel in den schottischen Zeitungen rausgesucht. Es war nicht schwer. Aber das Foto von dir … mein Gott, Mädchen, da erkennt man dich ja gar nicht wieder.«
»Das war Carol Ann.« Ich muss schmunzeln.
»Für mich wirst du immer Cara May sein.« Sein Gesicht verzerrt sich. »Ich werde dich vermissen.«
Ich nicke. »Wird komisch sein, Newsnight anzugucken ohne dich«, erwidere ich.
Wir stehen eine Weile schweigend da. Tränen laufen mir über die Wangen.
»Du hast mich gerettet, Cara.«
»Wir haben uns gegenseitig gerettet.«
»Ich hab was für dich«, sagt er schließlich und humpelt aus dem Zimmer. Ich bleibe im Wohnzimmer stehen, während er sich langsam die Treppe hinaufkämpft. Ich lege den Kopf zurück und schließe die Augen, weil ich es nicht länger ertrage. Ich will ihn nicht verlassen, und gleichzeitig muss ich von hier fort, muss es hinter mich bringen.
Als er zurückkommt, hält er in der Hand Patsys Schmuckschatulle.
»Der Smaragd ist am hübschesten«, sagt er. »Nimm ihn.«
»Das kann ich nicht, Harry … bitte, das geht nicht…«
Er hört mir nicht zu. Er öffnet die Schatulle und nimmt den Ring heraus. »Passt perfekt«, verkündet er. »Patsy hätte es so gewollt. Ich will es auch. Patsy, sie … hätte dich gern gehabt, Cara. Manchmal stelle ich mir euch beide als Freundinnen vor.«
Ich lege meine Arme um seinen Hals.
»Vielen Dank, Harry.«
Er küsst mich auf den Scheitel und legt seine Hände auf meine Oberarme.
»Ich werde Alex nicht reinholen, Harry.« Ich kann mich kaum mehr auf den Beinen halten. »Das zieht das Ganze nur in die Länge, macht es noch schwerer.«
»Jetzt mach dich auf den Weg, Mädchen«, flüstert er und versucht zu lächeln, während er mit den Tränen kämpft. Seine Stimme will ihm nicht recht gehorchen. »Du hast eine lange Reise vor dir.«
»Ich behalte das Strandhaus.«
Da lächelt er.
Alex legt seine Hand auf mein Knie, und wir fahren los. Als ich mich ein letztes Mal umdrehe, sehe ich, wie Harry, auf seinen Stock gestützt, auf der Schwelle seines Hauses steht und mir nachwinkt, und im Hintergrund, die verschneiten Hügel und ganz in der Ferne, das blaue Strandhaus, das im Schein der Wintersonne leuchtet.
51.
Weitere Kostenlose Bücher