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Die verborgenen Bande des Herzens

Die verborgenen Bande des Herzens

Titel: Die verborgenen Bande des Herzens Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Catherine Deveney
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sonst?
    »Durch meine berufliche Tätigkeit, Karen«, fährt Hammond fort, »erlebe ich es immer wieder, dass die Kindheit von ganz entscheidender Bedeutung ist. Das ist nicht einfach nur so ein Klischee. Es verhält sich tatsächlich so. Also, lassen Sie uns darüber reden.«
    Er spürt mein Unbehagen, dreht seinen Sessel ein wenig, kehrt mir seine Seite zu und blickt aus dem Fenster, statt mich, wie vorher, direkt anzuschauen. Seine Geste wirkt auf mich sehr bewusst, fast kalkulierend.
    »Ein schöner Baum, dort drüben«, sagt er und deutet mit dem Kopf hinüber zur anderen Straßenseite, wo eine majestätische Kiefer steht, deren Zweigspitzen von Raureif überzogen sind. »Ja«, fährt er fort. »Familie. Mütter. Väter. Geschwister. Haben Sie eine große Familie, Karen?«
    »Nein. Nur einen Bruder.«
    »Ihre Mutter, sie war zu Hause?«
    »Ja.«
    »Vater?«
    »Ja.«
    Ich bekomme Herzklopfen.
    »Welchem Familienmitglied standen Sie am nächsten?«
    »Meiner Mutter.«
    Hammond schaut weiterhin versonnen aus dem Fenster, als würde er nur mit halbem Ohr zuhören. »Lebt sie noch?«
    »Ja.«
    »Und Ihr Vater … erzählen Sie mir was über ihn.«
    »Er … er hatte einen Unfall. Er sitzt im Rollstuhl.«
    »Was war das für ein Unfall?«
    »Er fiel die Treppe hinunter.«
    Hammond nickt nur. »Haben Sie als Kind Ihren Vater geliebt?«
    »Nein.«
    »Verstehe.«
    »Warum haben Sie mich das gefragt?«
    »Weil Sie ihn ausschließlich über seine Behinderung definiert haben. Sie haben mir keine andere Beschreibung dargeboten.«
    »Also habe ich meinen Vater nicht gemocht. Na und?«
    Hammond zuckt mit den Schultern.
    »Warum haben Sie ihn nicht gemocht?«
    »Aus vielen Gründen. Er trank zu viel.«
    »War er ein aggressiver Alkoholiker?«
    »Er war ein aggressiver Was-weiß-ich-alles.«
    »Welches Gefühl gab er Ihnen, Karen?«
    Wenn er meinen Vornamen ausspricht, ist seine Stimme weich, ernst. Fast persönlich. Sie liebkost mich, doch die Frage selbst explodiert in meinem Kopf, irgendwo hinter den Augen, die Gefühle schießen mir ins Hirn wie schrille Feuerwerksraketen, angetrieben von meiner Wut. Ich schließe die Augen, schiebe die bunten Farben weg, versuche, meiner Sicht ihre frühere graue Einförmigkeit zurückzugeben.
    »Welches Gefühl gab er Ihnen?«, wiederholt er.
    Meine Augen sind immer noch geschlossen. Ich bin so müde. So viele schlaflose Nächte, schwarze zuckende Schatten, die auf der grauen Wand meines Zimmers einen bedrohlichen Tanz aufführen. Ich redete mir ein, die Schatten, die in der Dunkelheit nach oben und unten wanderten, rührten von den Autos her, die unten auf der Straße vorbeifuhren, von den Lichtkegeln ihrer Scheinwerfer, doch irgendwie glaubte ich nicht daran. Eine innere Stimme sagte mir, dass er sie geschickt hatte, dass er eines Tages zurückkommen wird. Als ich noch ein Kind war, sagte er, ich würde für immer sein Eigentum bleiben. Ich könne ihm niemals entkommen.
    »Machtlos zu sein«, beantworte ich Hammonds Frage. Ich bin fast verblüfft, als ich mich reden höre. Ich nehme den Kopf nach hinten, lehne mich in meinem Stuhl zurück.
    »Aber er sitzt im Rollstuhl, sagten Sie?«
    »Ja.«
    Es gibt noch jemanden, der mir jetzt das Gefühl gibt, machtlos zu sein. Alex. Ich kann nicht vergessen, welche Empfindungen er in mir ausgelöst hat. Alles ist danach anders geworden. Ich sehne mich danach, wieder so zu empfinden wie in jener Nacht, diesen seltsamen, fremden Schauer von Zärtlichkeit zu spüren, die feine, kostbare Angst, sich hinzugeben … Hammonds Stimme funkt dazwischen.
    »Ein Mensch im Rollstuhl ist normalerweise derjenige, der sich machtlos vorkommt. Ihr Vater ist demnach vielleicht eine sehr starke Persönlichkeit?«
    »Ja«, antworte ich kurz angebunden.
    »Sie sprachen von einem Unfall. Was genau ist passiert?«
    Meine Augen öffnen sich.
    »Sie sind müde?«, sagt Hammond in fragendem Ton. »Schlafen Sie immer noch so schlecht?«
    »Ja.«
    »Dann machen Sie ruhig die Augen wieder zu«, erwidert er nachsichtig. »Es ist okay, wenn Sie die Augen schließen.«
    Seine Antwort ärgert mich. Ich brauche doch seine Erlaubnis nicht.
    »Der Unfall?«, gibt Hammond das Stichwort.
    »Er ist die Treppe hinuntergestürzt.«
    »War er zu der Zeit betrunken?«
    »Ja, er war betrunken. Betrunken und gewalttätig.« Ich spüre, wie ich wegdrifte. Ja, Alex gibt mir das Gefühl, machtlos zu sein. Ist das Liebe? Bedeutet Liebe, sich aufgeben, hingeben, sich unterwerfen? Ich weiß nicht, ob

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