Die verbotene Pforte
Boden ihm entgegenraste. Er konnte nur hoffen, dass das unter ihm wirklich ein Holunderstrauch war. Aber was war das Weiße rechts davon? Nebel? Kurz bevor er selbst wie ein Komet in den Strauch einschlug, hörte er einen dumpfen Aufprall. Sids Schrei verstummte abrupt – aber dafür erklang ein anderer Laut. Zweige kratzten über Tobbs’ Arme und bremsten endlich seinen Fall. Der Sturz war nicht so schlimm, das, was ihm das Leben aus jeder einzelnen Faser seines Körpers zu zerren schien, war etwas anderes. Ein Ton – ein schriller, unmenschlicher Ton. Die dreizehn Jahre seines Lebens zogen an ihm vorbei wie eine Reihe aufblitzender Lichter. Selbst fühlen konnte Tobbs diesen Schrei – als Gänsehaut auf seiner Seele. Er schüttelte ihn durch und ließ ihn erschöpft in den Zweigen zurück. Erst nach einer Ewigkeit begriff Tobbs, dass der schauerliche Ton verstummt war und dass er nur noch einem grässlichen, letzten Echo hinterherlauschte.
Vorsichtig richtete er sich auf und spähte durch das dichte Blattwerk. Neben dem Strauch kniete Sid und hielt sich immer noch die Ohren zu. Und neben Sid hüpfte eine Todesfee auf einem Bein. Ihr Gesicht war vor Schmerz verzerrt, ihr Mund, aus dem der schreckliche Todesschrei gekommen war, weit aufgerissen. Mit beiden Händen umklammerte sie ihren bloßen Fuß. Eine hässliche Schramme zeichnete sich an der Stelle ab, auf die Sid offenbar gesprungen war.
»Die Todesfee!«, kreischte die Stimme eines Verfolgers über Tobbs’ Kopf. »Die Todesfee hat geschrien! Weg hier! Sonst werden wir alle sterben!«
Tobbs erhaschte gerade noch einen Blick auf einige Dorfbewohner, die über den Rand der Mauer starrten – und dann die Flucht ergriffen.
Nun kam auch Sid auf die Beine und klopfte sich Gras und Erde von den Hosenbeinen. Als er das Knacken des Geästs hörte, drehte er sich um und entdeckte Tobbs. Ein erleichtertes Lächeln erschien auf seinem engelsgleichen Gesicht.
»He, Tobbi! Gute Idee mit der Mauer. Die Meute sehen wir so schnell nicht wieder!«
Die Banshee ließ ihren geprellten Fuß los und schlug sich beide Hände vor den Mund.
»Entschuldige«, meinte Sid aufrichtig. »Ich wollte dir noch ausweichen … aber da warst du schon genau unter mir … und da …«
Die Todesfee sackte in sich zusammen und krümmte sich, ein weißes Häuflein Elend, dem perlmuttweiße Tränen über die Finger rannen. »Oh nein«, flüsterte sie. »Nein, das war ich nicht. Das war doch nicht ich, die geschrien hat?«
Tobbs wälzte sich aus dem Busch und sprang auf den Boden. Seine Knie wackelten wie lose Scharniere. Er rannte zu der zusammengekauerten Banshee hinüber und ließ sich vor ihr nieder. Behutsam berührte er ihre Handgelenke – sie fühlten sich an wie Fleisch gewordener Nebel.
»Alles in Ordnung?«, fragte er leise. »Tut es … sehr weh? Dein Fuß?«
Die Todesfee zuckte überrascht zurück und blickte ihn aus Augen an, die so traurig waren wie der dunkelste See tief. Tobbs hatte schon viele Todesfeen gesehen, aber diese hier war etwas ganz Besonderes. Zu ihren Lebzeiten musste sie eine Schönheit gewesen sein. Vielleicht hatte sie dunkles Haar gehabt, nun aber fiel es ihr in silberweißen Wellen über die Schultern und umrahmte ein elfenbeinfarbenes sanftes Gesicht. Selbst ihre Augen waren weiß, und auch ihre Wimpern und Brauen.
»Du kannst mich … immer noch sehen?«, wisperte sie ungläubig. Ihr Blick glitt fassungslos zu Sid. »Und du?«
»Klar«, sagte Sid. »Du bist ganz weiß, nur dein Fuß ist – äh … dunkelgrau? Ist das bei dir so was wie ein blauer Fleck?«
Die Banshee betrachtete verdutzt ihre Hände. »Aber … Menschen können mich doch gar nicht sehen.«
»Ich bin ja auch kein Mensch«, gab Sid zurück. »Ich bin ein Dämon. Der Mensch ist der da!«
Tobbs schluckte. Das mulmige Gefühl kroch wieder seinen Nacken hoch. Er war ein Mensch, ganz bestimmt! Oder doch nicht?
»In unserem Wirtshaus kann ich alle Todesfeen sehen. Können die Leute dich hier nur wahrnehmen, wenn du … schreist?«, fragte er.
Die Fee ballte die Hände zu Fäusten. »Der Schrei!«, zischte sie und sprang auf die Füße. Ihr Gewand, das einem Hochzeitskleid sehr ähnlich war, flatterte im Wind. »Ich habe geschrien! Ich darf nicht schreien! Alles darf passieren, nur das nicht.«
Es war seltsam zu sehen, wie sie vor Wut und Verzweiflung die Hände rang und sich dabei bemühte, leise zu sprechen. »Er ist verloren!«, jammerte sie im Flüsterton. »Alles ist
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