Tee macht tot
Prolog
Bedächtig ging sie, ohne sich umzudrehen, in Richtung Haustür. Ihre Hand auf der Türklinke hielt sie zögernd inne. Unzählige Male war sie schon durch diese Haustür hinausgetreten, doch nun, mit dem Wissen, nie wieder hierher zurückzukehren, fiel es ihr schwer, sich auf den Weg zu machen. Nachdenklich hielt sie ihren Kopf zur Seite geneigt. Sollte sie sich noch ein einziges Mal umdrehen? Einen letzten Blick wagen?
Es war der winzige Moment, in dem sie die Küchenjalousie erblickte, bevor ihr Blick weiter wanderte, doch dieser Moment hatte ausgereicht, um sie entschlossen, kehrt machen zu lassen. Letztlich hätte es ihr egal sein können, ob diese Jalousie oben oder unten war. Es war einfach die Gewohnheit, die sie hatte umkehren lassen. Nie war sie außer Haus gegangen, ohne dieses klemmende Ding halb herunterzulassen, und stets hatte sie sich darüber geärgert. Als sie nun an dem Seil zog, glitt die Jalousie mühelos herunter.
Esther Friedrichsen musste schmunzeln. Manche Dinge erforderten einfach ein bisschen Abstand, um reibungslos zu funktionieren.
„Ach herrje!“, murmelte sie vor sich hin. „Da muss ich erst 50 Jahre hier wohnen, um darauf zu kommen.“
Von unten hörte sie das bestellte Taxi hupen.
„Ich komme ja gleich!“, grummelte Esther, zog einen Stuhl unter dem Esstisch hervor und ließ sich darauf nieder. Leicht strich ihre Hand über den Tisch. Wie oft hatte sie an diesem dunklen Holztisch, der stets mit einem Strauß Wiesenblumen geschmückt war, gesessen? Ohne die Blumen und vor allem ohne ihren Karli wirkte er jetzt jedoch seltsam fremd.
Erneut hupte das Taxi. Esther stand auf und schob den Stuhl wieder unter den Tisch. Prüfend warf sie im Vorbeigehen noch einen Blick in einen der Küchenschränke. Sie musste sich auf die Zehenspitzen stellen, um ganz hineinzusehen. Der Schrank war leer. Nicht ein Teller war übriggeblieben.
Alles, was etwas wert gewesen war, hatte sie verschenkt. Wie auf einem Flohmarkt war ihre Nachbarschaft in ihrer Wohnung umhergestreift, hatte in Schränken gestöbert und eingepackt, was sie glaubten, gebrauchen zu können, oder von dem sie meinten, daraus Geld machen zu können.
Esther Friedrichsen hatte das nicht gestört. Ihre Erinnerungen bewahrte sie schließlich in ihrem Kopf auf und nicht in Schränken.
Dort, wo sie nun hinging, brauchte sie von all den Dingen ohnehin nichts mehr, und das, was sie benötigte, hatte sie in zwei Koffern verstaut. In einem befanden sich, fein säuberlich verpackt, ihre Kräuter, in dem anderen ihre Kleidung.
Wehmütig schlenderte sie endgültig zur Wohnungstür und zog sie hinter sich zu. Den Schlüssel, den sie sonst so sorgfältig, in ihre Tasche packte, warf sie heute in den Briefkasten.
Unwillig schaute der Taxifahrer sie an, als sie endlich auf der Rückbank Platz nahm.
„Wo soll´s hingehen?“, fragte er mürrisch. Unendlich genervt, mit welcher Ruhe sie im Leben umhertrabte.
„St. Benedikta, das liegt beim ….“, antwortete Esther leise.
„Ich weiß, am Starnberger See. Meine Mutter war auch dort.“ Der Blick des Fahrers wurde freundlicher. „Ihr Umzug nach St. Benedikta?“
Mit wässrigen Augen nickte Esther Friedrichsen. Ja, das war die letzte Station ihres Lebens. Melancholisch guckte sie noch einmal zurück. Zurück zu ihrem altem Leben, zurück zu ihrem alten Wohnblock in ihrem alten Wohnviertel. Dann atmete sie tief durch, versuchte mit aller Kraft, die trüben Gedanken wegzuwischen und wandte sich wieder dem Fahrer zu, der sie in ihr neues Leben befördern sollte.
1
Schon früh hatte sein Vater ihn gelehrt, jede Entscheidung, die er für sein Leben treffen musste, genau abzuwägen und von verschiedenen Faktoren abhängig zu machen.
„Welche Faktoren sind das?“, wollte der 7-jährige Balthasar Sebastian Rohrasch wissen.
„Das ist abhängig von dem, was dein Ziel ist, mein Junge“, erklärte der Vater. „Nicht der Weg bestimmt dein Ziel, sondern das Ziel deinen Weg.“
„Das verstehe ich nicht, Vater.“
Vater Rohrasch nahm sich ein Blatt Papier setzte sich an den Küchentisch und holte sich seinen Sohn auf den Schoß. „Hast du ein Ziel“, erklärte der Vater, während er flink eine Tabelle auf das Papier kritzelte, „dann schreib dir alles auf, was dir dazu einfällt, um dahin zu kommen.“
„Meinst du meine Wünsche?“, erkundigte sich der kleine Balthasar Sebastian Rohrasch mit wissbegierigem Blick.
„Nein, mein Sohn, ein Wunsch ist einer der
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