Die Verfluchten
entscheiden zu müssen«, antwortete Abu Dun. Seine Augen
wurden schmal. »Hat sie zu wenig geboten?«
»So weit sind wir nicht gekommen«, erwiderte Andrej, ebenfalls
eine Spur schärfer als bisher. Innerlich gemahnte er sich zur Ordnung. Er war dem drohenden Streit mit Meruhe nicht ausgewichen,
um jetzt einen anderen mit Abu Dun anzufangen. »Die Sache hier
geht uns nichts an, Abu Dun.«
Der Nubier wollte auffahren, doch Andrej hob gleichzeitig die rechte Hand und die Stimme. »Ich habe bisher mitgemacht, weil du mein
Freund bist und weil ich Sklavenhändler fast ebenso sehr verachte
wie du. Wir haben diese Leute befreit, und wir werden Meruhe helfen, sie nach Hause zu bringen, aber dann ist es genug. Wenn du von
Ali Jhin bisher nicht erfahren hast, was du wissen wolltest, dann
wirst du es auch dann nicht erfahren, wenn du ein paar Dutzend seiner Leute niedermetzelst.«
»Du hast also für uns beide entschieden«, knurrte Abu Dun noch
einmal.
»So wie du gestern Abend, ja.«
Abu Dun wollte erneut widersprechen, doch in diesem Moment
bemerkte Andrej aus den Augenwinkeln eine hektische Bewegung.
Abu Dun und er drehten sich gleichzeitig um und sahen zu Meruhe
und dem Sklavenhändler hin.
Auch die beiden hatten ihr Gespräch unterbrochen. Ein dunkelhaariger Mann mittleren Alters näherte sich ihnen im Laufschritt, und
das konnte bei Temperaturen, bei denen schon das Blut in den Adern
zu kochen begann, wenn man nur ganz ruhig dasaß, nichts Gutes
verheißen. Auf Meruhes Gesicht erschien ein besorgter Ausdruck,
noch bevor der Mann herangekommen war, während Ali Jhin unbewegt aufblickte.
»Was ist passiert, Faruk?«, empfing Meruhe den Dunkelhaarigen.
»Paras«, stieß der Araber hervor. Sein Atem ging keuchend. »Mein
Sohn, Meruhe. Er… er stirbt.«
Meruhe war mit einem einzigen Satz auf den Füßen. Auch Andrej
und Abu Dun sprangen auf und folgten ihr, während sie dem Mann
nacheilte, der kehrtgemacht hatte und in die gleiche Richtung zurücklief, aus der er gekommen war. Ali Jhin blieb sitzen und sah fast
hilflos aus, doch Andrej schenkte ihm nicht mehr als einen flüchtigen
Blick. Er konnte sich nicht vorstellen, dass der Sklavenhändler verrückt genug wäre, den Moment auszunutzen und einen Fluchtversuch
zu wagen. Schon, weil Ali Jhin wissen musste, dass Abu Dun nur auf
einen solchen Vorwand wartete.
Faruk führte sie fast bis zum anderen Ende des lang gestreckten
Dünentals, in dem sie ihr provisorisches Lager aufgeschlagen hatten.
Ein Gutteil der Sklaven war dort zusammengelaufen und hatte sich
um eine schmale Gestalt versammelt, die ausgestreckt auf dem Rücken lag.
»Lasst mich durch«, befahl Meruhe, während sie sich mit weit ausholenden Schritten dem Jungen näherte. Obwohl er, lang ausgestreckt im Sand, wie er dalag, fast so groß sein musste wie Andrej,
war er beinahe noch ein Kind; vielleicht zwölf Jahre alt, schätzte
Andrej, kaum mehr. Bekleidet war er nur mit einer zerrissenen Hose
und einem weißen Tuch, das er sich als Schutz vor der Sonne um den
Kopf gewickelt hatte. Seine sonnengebräunte Haut machte es
schwer, zu erkennen, was die Hitze und die mörderische Glut, die der
lodernde Feuerball am Himmel auf das Land herabschleuderte, ihm
angetan hatten, aber Andrej war nicht nur auf das angewiesen, was er
sah. Abu Dun und er waren noch gute sieben oder acht Schritte von
ihm entfernt, und auf diese geringe Distanz hätte er seine Atemzüge
hören müssen, vielleicht sogar seinen Herzschlag. Er hörte keines
von beidem. Der Junge war tot.
»Kannst du… Kannst du ihm helfen?«, stammelte Faruk mit zitternder Stimme, während Meruhe sich neben der reglosen Gestalt
seines Sohnes in den Sand fallen ließ und mit beiden Händen nach
ihm griff. »Bitte, Meruhe. Er… er ist mein einziger Sohn, und…«
»Ich werde für ihn tun, was ich kann«, fiel ihm Meruhe ins Wort.
»Ich kann dir nichts versprechen, aber ich versuche es.«
Andrej und Abu Dun tauschten einen überraschten Blick. Selbst
Meruhe, die nicht über die scharfen Sinne eines Unsterblichen verfügte, hätte eigentlich sehen müssen, dass es nichts mehr gab, was sie
für dieses bedauernswerte Kind tun konnte. Der Junge war tot; vermutlich noch nicht sehr lange, ein paar Minuten höchstens, aber er war tot. Andrej fragte sich, warum Meruhe diesem armen Mann
Hoffnungen machte, die sie nicht würde erfüllen können. Er hatte die
Nubierin nicht als einen Menschen eingeschätzt, der die Augen vor
der
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