Die Verfluchten
unheimliche Weise bekannt vor, obwohl es zugleich so fremd und andersartig war, dass er
fast erschrocken davor zurückprallte. Es war fast wie der Wechsel, jene seltenen Gelegenheiten, bei denen Andrej sich nicht damit begnügt hatte, das Leben eines Gegners zu nehmen, sondern auch seine
Seele zu rauben und damit das zu tun, was Vampyre wirklich taten,
wenn andere glaubten, sie tränken das Blut ihrer Opfer. Es war die
gleiche Art von Kraft, nur, dass es kein brutaler Akt des Herausreißens und Stehlens war, nicht das letzte, gleißende Auflodern einer
Flamme, die die Kraft, die für ein Leben reichen sollte, im Bruchteil
eines Atemzugs verzehrte. Dieses Gefühl war sanfter. Es war kein
destruktiver Akt, sondern einer des Erschaffens.
Meruhe hörte auf zu singen. Ihre Hände bewegten sich noch für einen Moment über dem Gesicht des Jungen, doch als ihre Finger fortfuhren, kleine, verschlungene Bewegungen zu machen, die an das
Schlagen winziger Flügel erinnerten, beugte sie sich vor, nahm das
Gesicht des Jungen in beide Hände und presste ihre Lippen auf seine.
Im gleichen Moment bäumte sich der schmale Körper unter ihr auf.
Meruhe beendete ihren unheimlichen, Leben spendenden Kuss und
ließ das Gesicht des Jungen los. Paras warf sich mit einem keuchenden Laut auf die Seite, zog die Knie an den Leib und begann hustend
und qualvoll nach Atem zu ringen. Sein Vater schrie auf und war mit
wenigen, gewaltigen Sätzen bei ihnen, und auch die anderen kamen
nun wieder herbeigerannt, während Meruhe sich langsam erhob und
rückwärts zurückwich. Mit einem Male wirkte sie unendlich müde
und verwundbar. Ihre Schultern sackten herab, und sie schien kaum
noch die Kraft zu haben, sich auf den Beinen zu halten. Einen Moment später wankte sie tatsächlich.
Andrej war mit einem raschen Schritt bei ihr und fing sie auf, während Abu Dun völlig reglos stehen blieb und sie aus großen Augen
anstarrte.
»Ist alles in Ordnung?«, fragte Andrej hastig.
Meruhe fing sich mit einiger Mühe wieder, und er konnte sehen,
wie die Kraft so plötzlich in ihren Körper zurückkehrte, wie sie sie
verlassen hatte. Aber nicht vollständig. Sie stützte sich weiter schwer
auf seinen Arm, während sie den Kopf schüttelte und antwortete. »Es
geht schon wieder. Danke.«
Andrej sah sie weiter prüfend an. Es war eindeutig unheimlich: Er
konnte dabei zusehen, wie sie sich erholte, als gäbe es einen verborgenen Quell gewaltiger Kraft tief in ihrem Inneren, auf den sie
Zugriff hatte. Das Lächeln kehrte in ihre Augen zurück, aber auch
etwas von dem, was er gerade darin gesehen hatte, als sie Abu Dun
und ihn fast angeschrien hätte. Nur, dass sie jetzt nicht zornig wirkte,
sondern eher… amüsiert?
»Siehst du, Andrej«, sagte sie. »Das habe ich gemeint, als ich sagte,
dass man nicht vorschnell vom Tod sprechen soll.«
Nein, dachte Andrej, das hast du nicht gemeint. Laut antwortete er:
»Wie hast du das gemacht? Der Junge war…«
Er wäre überrascht gewesen, hätte sie ihn nicht unterbrochen.
»Dem Tod näher als dem Leben«, sagte sie. »Das ist wahr. Vielleicht
ist das der Unterschied zwischen dir und mir, Andrej. Du bist ein
Krieger, dessen Ziel der Tod ist. Ich bin eine Heilerin, die für das
Leben kämpft.«
Andrej war sicher, dass sie damit mehr sagen wollte. Dennoch
schüttelte er den Kopf. »Da war nicht mehr viel Leben in ihm«, beharrte er. »Um nicht zu sagen, gar keines.«
Meruhe lachte leise. »Dann muss ich eine Zauberin sein«, sagte sie
spöttisch. »Ich wollte dich nicht beleidigen, Andrej. Aber das Leben
ist viel hartnäckiger, als du glaubst. Es ist eine empfindliche Flamme,
die der kleinste Windzug auslöschen kann, und doch lodert sie
manchmal selbst dann wieder auf, wenn die Glut längst erloschen zu
sein scheint.«
Sie ließ Andrejs Arm los und trat einen Schritt zurück. »Ich muss
mein Gespräch mit Ali Jhin zu Ende führen«, sagte sie mit einer
Kopfbewegung in die Richtung, in der sie den Sklavenhändler zurückgelassen hatten. Ein wenig erschrocken wandte Andrej den
Blick, wurde aber gewahr, dass Ali Jhin noch immer an seinem Platz
saß. Er schien sich die ganze Zeit über nicht einmal gerührt zu haben.
»Und danach müssen wir weiter. Wir haben noch einen langen Weg
vor uns, unsere Zeit wird allmählich knapp.«
Sie ging. Andrej sah ihr verwirrt und zutiefst verunsichert nach,
Abu Dun überwand seine Erstarrung schließlich und wollte hinter ihr
hereilen, doch Andrej hielt ihn
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