Die vergessene Generation: Die Kriegskinder brechen ihr Schweigen
mit einem gebrochenen Kiefer im Krankenhausbett landete, gerieten die vom Schicksal begünstigten Frauen ins Grübeln. Dann erst wurden sie aufmerksam aufMissstände, von denen sie selbst nie betroffen waren. So kam es, dass damals der Zusammenhalt unter den Frauen wuchs.
Viel war auch von Solidarität die Rede, als ich in Karlsruhe Helmut Simon, Bundesverfassungsrichter im Ruhestand, interviewte und er seine eigene Generation der Kriegsteilnehmer mit der der Kriegskinder verglich. »Meine Generation – ich bin Jahrgang 1922 – hatte schwere Leiderfahrungen hinter sich«, sagte er, »aber sie war eine anerkannte, in der Öffentlichkeit geschätzte Gruppe, die auch – soweit sie überlebt hatte – ein starkes Selbstwertgefühl entwickelt hatte. Es gab auch so etwas wie ein solidarisches Wir-Gefühl.«
Trotz aller politischen Gegensätze, stellte Simon fest, habe das gemeinsame Erleben, das gemeinsame Über leben, eine große Rolle gespielt. »Das schloss zusammen, sodass man sich auch gegenseitig half. Also, es war ein begrenztes Wir-Gefühl. Aber es war da, und man fühlte sich nicht allein. Fast jeder hatte Unglaubliches erlebt und musste damit fertigwerden.« Dass jemand an seinen Traumatisierungen litt, wurde selbstverständlich akzeptiert, fügte er noch hinzu. Bei den Kriegskindern sei vieles anders. Laut Simon wirken sie unauffälliger, und sie sind mit einem geringeren Selbstwertgefühl ausgestattet als seine eigene Generation.
Kein Wunder. Sie befinden sich in einer üblen Klemme. In ihrer Kindheit hatte es geheißen: Stell dich nicht so an. So was haben doch alle erlebt! Schau nach vorn. Daran haben sie sich brav gehalten. Und nun, da sie alt werden, hören sie in ihrer Umgebung: Was soll es denn bringen, nach so vielen Jahren? Was versprichst du dir davon, wenn du mit über sechzig noch in deiner Kindheit herumstocherst . . .
Auch Simon hatte sich gefragt, ob es für die Jüngeren nicht besser sei, die Dinge auf sich beruhen zu lassen. Aber der Austausch mit seiner Frau, Jahrgang 1940, hat seine Sichtweise verändert.
»Was haben wir mit unserer Wut gemacht?«
Heide Simon-Ostmann, von Beruf Pastoralpsychologin, ist auch aus persönlicher Erfahrung bewusst, dass noch vieles Unerledigte darauf wartet, endlich verarbeitet zu werden: »Zum Beispiel: Was haben wir denn mit unserer Wut gemacht? Was haben wir denn mit unserer Enttäuschung gemacht? Was haben wir mit unserem Ehrgeiz, unserer Lebensfreude, also, was haben wir mit all diesen Regungen gemacht? Die haben wir alle irgendwo säuberlich verpackt in den Schrank gelegt oder haben sie sogar als Leiche im Keller liegen.«
Wichtig sei also, sagt sie, dass Angehörige ihrer Generation von ihrer unmittelbaren Umgebung nicht gebremst, sondern ermutigt würden. Aber das allein, findet sie, reiche nicht aus. »Wir brauchen auch die öffentliche Ermutigung! Wir sind als Generation – weil wir es uns nicht selber geben können – auf eine Genehmigung von außen angewiesen: Ihr dürft und ihr sollt das Schlimme aufarbeiten! Es gibt Gründe, warum das Aufarbeiten nötig ist: dass du als Kind gehungert hast, dass dich die Tiefflieger übers Feld gehetzt haben, dass du durch brennende Städte gelaufen bist . . .«
Nur – wer könnte diese Erlaubnis geben? Wir sind wieder bei dem Ausgangsthema dieses Kapitels, bei der Frage nach dem Sinn öffentlichen Gedenkens und kollektiver Trauer. Könnte es dazu einen Konsens geben, zum Beispiel im Deutschen Bundestag? Unwahrscheinlich. Als der CSU-Politiker Peter Gauweiler dort Ende 2002 einen Gedenktag für die deutschen Bombenopfer im Zweiten Weltkrieg anregte, stieß er auf breites Desinteresse.
Es war also noch nicht einmal die Bereitschaft zu erkennen, sich darüber Gedanken zu machen. Die Bundesregierung – selbst eine Truppe von Kriegskindern, wenn man bedenkt, dass über die Hälfte der Kabinettsmitglieder diesen Jahrgängen angehören – sah jedenfalls keinen Handlungsbedarf. Der Schluss ihrer äußerst knapp ausgefallenen Anwort ließ daran keinen Zweifel: »Im Widmungstext der Zentralen Gedenkstätte der BundesrepublikDeutschland in der Neuen Wache zu Berlin heißt es dazu: ›Wir gedenken der Unschuldigen, die durch Krieg und Folgen des Krieges in der Heimat, die in Gefangenschaft und bei der Vertreibung ums Leben gekommen sind.‹«
Aber noch einmal: Es geht nicht um Kranzniederlegungen für die Toten. Es geht vor allem darum, die Überlebenden zu stützen. Die Kriegskinder haben sich in den Ritualen
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