Die vergessenen Welten 11 - Kristall der Finsternis
ein Ort, zu dem Entreri gehen konnte, um mit dem Wiederaufbau seiner Machtbasis in der Stadt zu beginnen, aber er zuckte nur mit den Achseln und ging an der Nebenstraße vorbei, die zu dem Haus führte. Er glaubte, nur ziellos herumzuwandern, kam jedoch schon bald in eine weitere, ihm vertraute Gegend und erkannte, dass er unbewusst hierher gekommen war, möglicherweise, um sich Mut zu machen.
Dies waren die Straßen, in denen sich ein junger Artemis Entreri seine ersten Sporen in Calimhafen verdient hatte. Hier hatte er, noch als Jüngling, all jene besiegt, die seine Vormachtstellung in Frage gestellt hatten, und hier hatte er gegen den Mann gekämpft, den Theebles Royuset gegen ihn ausgeschickt hatte, der Leutnant der mächtigen Gilde von Pascha Basadoni. Entreri hatte diesen Halsabschneider getötet, und später hatte er auch den hässlichen Theebles umgebracht – ein schlauer Mord, der ihm die großzügige Gunst Basadonis eingebracht hatte. Er war im zarten Alter von vierzehn Jahren zum Leutnant einer der mächtigsten Gilden von Calimhafen, ja von ganz Calimshan aufgestiegen.
Doch all das kümmerte ihn jetzt kaum noch, und die Erinnerung an jene Zeit brachte nicht den geringsten Hauch eines Lächelns auf sein Gesicht.
Er dachte noch weiter zurück, an die Torturen, die ihn überhaupt erst hierher gebracht hatten, Schicksalsschläge, die zu gewaltig waren, als dass ein Knabe sie hätte meistern können, Täuschung und Verrat durch jeden, den er gekannt und dem er vertraut hatte, insbesondere durch seinen Vater. Dennoch, es kümmerte ihn nicht, er spürte nicht einmal mehr den Schmerz, den ihm dies verursacht hatte. Es war bedeutungslos, eine Leere ohne Sinn oder Ziel.
Er sah eine Frau im Schatten einer der Hütten, die Wäsche zum Trocknen aufhängte. Mit offensichtlichem Misstrauen zog sie sich tiefer in die Schatten zurück. Er verstand ihre Vorsicht, denn er war hier ein Fremder, der mit seinem dicken, reich bestickten Reisemantel zu gut gekleidet war, um in dieses abgerissene Viertel zu gehören. Fremde brachten an diesen brutalen Orten gewöhnlich Ärger mit sich. »Von dort nach dort«, erscholl ein Ruf, und es war die stolze Stimme eines jungen Mannes, in der ein Hauch Angst mitschwang. Entreri drehte sich langsam um und sah sich den Jüngling an, einen großen, schlaksigen Knaben, der eine mit Nägeln gespickte Keule in der Hand trug, die er nervös hin und her pendeln ließ.
Entreri musterte ihn prüfend und sah sich selbst in dem Gesicht des Jungen. Nein, nicht sich selbst, erkannte er, denn dieser hier war zu offensichtlich nervös. Dieser hier würde nicht lange überleben. »Von dort nach dort!«, sagte der Junge lauter und deutete mit seiner freien Hand von jenem Ende der Straße, von dem Entreri gekommen war, zu jenem, auf das der Meuchelmörder zuging.
»Ich bitte um Entschuldigung, junger Herr«, antwortete Entreri, verbeugte sich leicht und fühlte dabei nach seinem juwelenbesetzten Dolch, der unter den Falten seines Mantels verborgen in seinem Gürtel steckte. Ein Zucken seines Handgelenks würde genügen, um die Waffe fünfzehn Fuß weit zu schleudern und sie an der linkischen Verteidigung des Jungen vorbeizischen und sich in seine Kehle bohren zu lassen.
»Herr«, wiederholte der Junge in einem Tonfall, in dem sowohl eine ungläubige Frage als auch trotziger Stolz mitschwangen. »Ja, Herr«, entschied er und schien den Titel zu mögen. »Herr dieser Straße, all dieser Straßen, und niemand darf sie ohne Erlaubnis von Taddio beschreiten.« Zur Bekräftigung seiner Worte deutete er dabei mehrfach mit dem Daumen auf seine Brust.
Entreri richtete sich gerade auf, für einen kurzen Augenblick zuckte der Tod aus seinen schwarzen Augen, und die Worte »toter Herr« kamen ihm in den Sinn. Der Junge hatte ihn gerade herausgefordert, und der Artemis Entreri von vor ein paar Jahren, ein Mann, der alle Herausforderungen angenommen und überwunden hatte, dieser jüngere Entreri hätte den Jüngling ohne viel Federlesens getötet. Doch jetzt ging das kurze Aufwallen des Stolzes vorüber und konnte Entreri weder behelligen noch beleidigen. Er seufzte resigniert und fragte sich, ob er an diesem Tag noch einen zweiten törichten Kampf absolvieren musste. Und wozu? fragte er sich, als er diesem verwirrten kleinen Jungen auf einer leeren Straße gegenüberstand, über die keine vernünftige Person jemals die Herrschaft beanspruchen würde. »Ich bitte um Entschuldigung, junger Herr«, sagte er
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