Die Vergessenen Welten 12 - Schattenzeit
Luskans Straßenleben.
TEIL 1
Die Gegenwart
In meinem Heimatland Menzoberranzan, wo Dämonen ihr Spiel treiben und Drowelfen sich an dem schrecklichen Untergang ihrer Rivalen ergötzen, herrscht ein ständiger, lebensnotwendiger Zustand der Wachsamkeit und der Vorsicht. Ein Drow, der nicht auf der Hut ist, ist in Menzoberranzan ein ermordeter Drow, und daher gibt es nur wenige Gelegenheiten, bei denen Dunkelelfen sich den Genüssen von exotischen Kräutern oder Getränken hingeben, die ihre Sinne vernebeln.
Wenige, doch es gibt Ausnahmen. Bei der Abschlusszeremonie von Melee-Magthere, der Schule der Kämpfer, an der ich ausgebildet wurde, geben sich die Schüler nach bestandener Prüfung einer Orgie mit trunken machenden Pflanzen und sinnlichen Freuden mit den Frauen von Arach-Tinilith hin. Es ist ein Moment des reinsten Genusslebens, ein Fest purer Gelüste, ohne an spätere Folgen zu denken.
Ich verweigerte mich dieser Orgie, auch wenn ich damals nicht wusste, warum. Sie widerstrebte meinem Sinn für Moral, glaubte ich (und tue dies noch immer), und würdigte so viele der Dinge herab, die ich in hohen Ehren halte. Jetzt, in der Rückschau, erkenne ich einen weiteren Grund, der mich zwang, die Orgie abzulehnen. Abgesehen von den moralischen Gründen, und von ihnen gab es viele, stieß mich der bloße Gedanke an die betäubenden Kräuter ab und machte mir Angst. Das wusste ich natürlich die ganze Zeit über – sobald ich während der Zeremonie die Berauschung bemerkte, rebellierte ich gegen sie –, aber erst seit kurzem habe ich den wahren Grund dieser Ablehnung erkannt, die Ursache, warum solche Betäubungen keinen Platz in meinem Leben haben.
Diese Kräuter greifen den Körper natürlich auf unterschiedliche Arten an, ob sie nun die Reflexe verlangsamen oder die gesamte Bewegungskoordination zunichte machen, doch wichtiger ist, dass sie den Verstand auf zwei verschiedene Weisen attackieren. Als Erstes vernebeln sie die Vergangenheit, sie löschen angenehme und
unangenehme Erinnerungen aus, und zweitens verhindern sie jeden Gedanken an die Zukunft. Rauschmittel fesseln ihren Benutzer an die Gegenwart, an das Hier und Jetzt, ohne Rücksicht auf die Zukunft, ohne ein Bedenken der Vergangenheit. Das ist die Falle, eine fatalistische Perspektive, die es erlaubt, sich der versuchten Sättigung von körperlichen Freuden hemmungs- und bedenkenlos hinzugeben. Eine berauschte Person wird selbst törichte Wagnisse unternehmen, weil ihre Vernunft bis hin zu ihren Überlebensinstinkten ausgeschaltet sein kann. Wie viele junge Krieger werfen sich töricht mächtigeren Feinden entgegen, nur um von ihnen erschlagen zu werden? Wie viele junge Frauen werden von Liebhabern schwanger, die sie sich niemals als zukünftige Ehemänner wünschen würden?
Das ist die Falle, die fatalistische Perspektive, die ich nicht
tolerieren kann, ich lebe mein Leben mit der Hoffnung, einer Hoffnung, die immer vorhanden ist, dass die Zukunft besser wird als die Gegenwart, doch nur solange ich daran arbeite, sie dazu zu machen. Aus dieser ständigen Bemühung heraus entsteht die Befriedigung des Lebens, das Gefühl, etwas geleistet zu haben, das wir alle brauchen, um echte Freude zu empfinden. Wie könnte ich dieser Hoffnung treu bleiben, wenn ich mir einen Moment der Schwäche erlauben würde, der all das vernichten könnte, für das ich schwer gearbeitet habe, und all das, was ich noch erreichen möchte? Wie hätte ich auf so viele unerwartete Krisen reagiert, wenn ich bei ihrem Auftreten unter dem Einfluss einer bewusstseinsverändernden Substanz gestanden hätte, die mein Entscheidungsvermögen getrübt oder meine Perspektive behindert hätte?
Zudem darf die Gefahr, wohin solche Substanzen führen können, nicht unterschätzt werden. Wenn ich mich von der Stimmung bei der Abschlusszeremonie von Melee-Magthere hätte mitreißen lassen, wenn ich mich den sinnlichen Freuden hingegeben hätte, die mir die Priesterinnen anboten, wie sehr wäre dadurch jede echte Liebe herabgewürdigt worden, die ich jemals empfand?
Ganz bedeutend, so denke ich. Sinnenfreuden sind – oder sollten es sein – der Höhepunkt körperlichen Verlangens, gepaart mit einer gefühls- und verstandesmäßigen Entscheidung, sich selbst mit Körper und Seele einer Verbundenheit von Vertrauen und Respekt zu überantworten. Auf eine Weise wie bei jener Abschlusszeremonie kann ein solches Teilen nicht stattfinden; es wäre nur ein Hingeben des Körpers und, mehr noch als
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