Die Vergessenen
das schien die Unterströmung des Schuldbewusstseins umso schwerer erträglich zu machen.
Im Tunnel waren Handgriffe verteilt, um sich daran entlangzuziehen. Jem stellte sich zunächst ungeschickt an, erinnerte sich aber an seine kurzen außerplanetaren Aufenthalte während der Ausbildung zum Proktor und hatte den Bogen bald heraus. Das gewaltige Objekt im leeren Raum, das vor ihnen lag, war nur als schwarzer Fleck zu erkennen, der einen Großteil des Sternenhimmels abdeckte. Jem empfand allmählich eine seltsame Vertrautheit diesem Ding gegenüber, aber dann begleitete wachsende Angst diese Vertrautheit.
»Fällt es Ihnen allmählich schwer?«, fragte Shree gehässig.
Jem bemerkte, dass er immer langsamer geworden war, und bewegte sich jetzt wieder schneller, da Grant schon ein gutes Stück Vorsprung gewonnen hatte. Er holte ihn gerade rechtzeitig ein, um ihn sagen zu hören: »Es ist soweit.«
Sonnenlicht erhellte die Szenerie von hinter ihnen und warf den Schatten des Polisschiffs direkt voraus, wo er ein Großteil dessen verdeckte, was dort lag. Weiter rechts jedoch, durch die Perspektive abgeschnitten, zeigte das Licht eine gebogene Fläche aus nacktem Metall, verkohlten Stellen sowie vereinzelten Stellen nichtverbrannten Vakuumanstrichs. Langsam glitt der Schatten nach links, legte mehr von dieser Fläche frei und machte Beschriftungen der Theokratie sichtbar. Nachdem Jem einige Buchstaben hatte lesen können, wurde ihm endlich klar, wohin sie ihn gebracht hatten.
»Glaube«, sagte er, und seine Stimme stockte.
»Das Laserfeuer«, erklärte Grant, »traf den Aufwärtsspiegel, sodass es ins Innere der Zylinderwelt reflektiert wurde. Der Spiegel hielt etwa zwei Sekunden lang durch, ehe er verdampfte, aber das reichte, um den Feuersturm auszulösen, der den Zylinder entkernte.« Der Soldat deutete auf die Stelle, die jetzt aus dem Schatten hervortrat und den ringförmigen, hitzeverformten Abwärtsspiegel zeigte, angebracht über einem seltsam fehl am Platz wirkenden neugotischen Turm, der an dieser Nabe des Zylinders aufragte, umgeben von einem konzentrischen Fenster, das dem reflektierten Sonnenlicht den Weg ins Innere von Glaube eröffnete. »Amolorans Turm ist restauriert worden. Der Großteil davon wurde auf einer langsam schrumpfenden Umlaufbahn um Kalypse gefunden und hierher zurückgeschleppt. Im Innern ist noch einiges Weitere restauriert worden.« Grant starrte Jemunverwandt an. »Die Toten, oder eher das, was von ihnen übrig ist, wurden nicht entfernt.«
»Warum wurden die Toten nicht bestattet?«, wollte Jem wissen, dessen Stimme endlich wieder kräftig klang. Ein verblassender, grollender Teil seines Selbst fragte sich, ob man die Toten sichtbar ließ, damit die Sieger sich an ihrem Anblick weiden konnten.
»Das wurden sie im Grunde – diese Anlage ist als Kriegsgrab eingestuft worden.« Grant setzte inzwischen seinen Weg durch den Andocktunnel fort.
»Die Polis ist über Häme erhaben«, sagte Shree, fast so, als könnte sie Jems Gedanken lesen.
Er sah sie an und bemerkte dann den Blick, den Grant kurz zu ihr zurückwarf. Unvermittelt verspürte Jem die kalte Gewissheit, dass der Soldat noch eine Zeit lang brauchen, Shree aber letztlich durchschauen würde. Als er ihm dann weiter folgte, spürte er eine an der Peripherie des eigenen Bewusstseins nagende Trauer, aber eine abgeschwächte Trauer, eher so etwas wie Traurigkeit. Es schien, als wäre er einen Augenblick lang auf Distanz gegangen und hätte einen anderen Winkel seines Selbst betreten. Er fragte sich, inwiefern der tatsächliche Anblick Glaubes zwanzig Jahre nach dem Feuersturm stärker wirken sollte, als die Zehntausende hier durch seinen Verstärker sterben zu fühlen. Ihn schmerzte, dass sie dachten: Welche entsetzlichen Eindrücke ihn auch immer hinter jener fernen Luftschleuse erwarteten, sie würden in ihm eine »ausreichende emotionelle Anteilnahme« bewirken. Dieser Schmerz resultierte jedoch aus der Meinung, die der Soldat von ihm hatte. Hielt Grant ihn für so oberflächlich?
Bald schon erreichten sie das Ende des Andocktunnels, betraten Amolorans Turm durch die große Außentür und zogen sich in eine Luftschleuse, die groß genug für einen Hierarchen und sein Gefolge war. Jem betrachtete die Satagentenschrift, dierings um die Wände der Schleuse verlief, die Mündungen zweier Betäubungsblaster, die aus ihren Nischen hoch an den Wänden lugten, und senkte den Blick schließlich zu den Vertiefungen, aus denen
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