Die Verlassenen
auf den Tresen, und ab mit dir.“
Es war beklemmend still auf den Gängen, als Ree sich auf den Weg zum Verlies machte. Doch hin und wieder hörte sie aus der Ferne das Wehklagen eines ruhelosen Geistes. Sie beeilte sich, ihren Auftrag auszuführen, doch sie bekam allmählich das gruselige Gefühl, als würde ihr jemand folgen. Immer wieder drehte sie sich um, doch der lange Korridor hinter ihr war leer. Sie kommt wieder. Sie kommen immer wieder.
In ihrem Nacken bildete sich eine Gänsehaut. Ree achtete nicht auf den eisigen Lufthauch, der nur von den Lüftungsschächten der Klimaanlage kommen konnte, tippte den Code ein und betrat das Verlies. Die Kälte folgte ihr in den Raum.
Sie redete sich gut zu und streckte die Hand nach dem Lichtschalter aus. Einen Augenblick später flackerten die Neonröhren auf und warfen ein hartes Licht auf das Bild, das sich ihr bot. Der Bereich war sehr groß und wohlgeordnet, ganz anders als das Archiv der Emerson-Bibliothek. Über den langen Reihen mit metallenen Aktenschränken konnte sie die Dunkelheit sehen, die durch die Gitter vor den schmalen Fenstern drang.
Ihre Turnschuhe machten kaum ein Geräusch, als sie über den gefliesten Boden ging. Sie legte die Akten auf den Tresen und wollte sich schon wieder umdrehen, als irgendetwas ihre Aufmerksamkeit erregte. Ein Geräusch, so ähnlich wie ein Flüstern.
Ree lachte gezwungen auf. Reiß dich zusammen, Mädchen. Hier ist nichts außer ein paar alten Akten. Über Jahrzehnte dokumentiertes Elend.
Doch dann hatte Ree plötzlich ein ganz klares Bild. Ob es eine Halluzination war oder noch eine Ausgeburt ihrer Fantasie, hätte Ree nicht sagen können, aber sie sah sich selbst in diesem Raum. Ein Bild nahm Gestalt an in ihrem Kopf ... das Bild einer jungen Frau, die man auf einer Trage festgeschnallt hatte und um deren Kopf ein mit Elektroden versehener Metallapparat befestigt war.
Wo ist mein Baby? Was habt ihr mit ihr gemacht? Bitte tut ihr nichts! Bitte tut ihr das nicht an!
Die Frau murmelte in einem fort, bis man eine lange Nadel unter das Augenlid einführte. Da fing sie an zu schreien und hörte nicht wieder auf.
Ree presste die Hände an den Kopf, um die verstörende Szene zu verdrängen. Es war ein Bild aus einem Film, ganz bestimmt. Etwas, das jahrelang im hintersten Winkel ihres Hirns gesteckt hatte.
Wieder wandte sie sich zum Gehen, doch da fiel ihr plötzlich etwas ein. Es war sehr gut möglich, dass einige von Violet Tisdales frühen Krankenakten hier unten aufbewahrt wurden. Vertraulichkeit war in der Psychiatrie und in der Psychologie heilig, deshalb fiel es Ree nicht leicht, in den Krankenakten herumzuwühlen. Doch so eine Gelegenheit kam vielleicht nicht wieder.
Eine flüchtige Prüfung ergab, dass die Akten nach Jahrzehnten geordnet waren. Ree hatte keine Ahnung, wann man Miss Violet in die Anstalt eingewiesen hatte. Das einzige genaue Datum, das sie kannte, war das von Ilsas zehntem Geburtstag – 3. Juni 1915. Professor Meakin hatte gesagt, sie sei nach Europa abgehauen, als sie siebzehn war, das musste also irgendwann 1922 gewesen sein. Angenommen, Violet wäre erst später geboren worden, dann war es am logischsten, mit der Suche in dem Jahr zu beginnen, in dem Ilsa verschwunden war. Danach würde Ree sich weiter vorarbeiten, bis sie etwas fand.
Wie sich herausstellte, brauchte sie nicht weiter zu suchen als 1922. Alles, was sie wissen wollte, stand in einer Akte mit der Aufschrift Ilsa Tisdale .
Ilsa war ebenfalls Patientin in der Anstalt gewesen.
Ree brauchte einen Moment, um die Bedeutung dieser Entdeckung zu erfassen. Im Alter von siebzehn Jahren war Ilsa von ihrem Vater James und von ihrem Arzt Milton Farrante in die Anstalt eingewiesen worden. Und in dieser Anstalt war sie geblieben bis zu ihrem Tod, sieben Jahre später.
Ree las die Akte durch und war so vertieft in Ilsas tragische Geschichte, dass sie das leise Geräusch der Tür kaum wahrnahm. Sie hatte keine Ahnung, dass da noch jemand war, bis sie plötzlich eine eisige Berührung im Nacken spürte. Eine Warnung ...
Nur den Bruchteil einer Sekunde später ging das Licht zuckend aus. Ree legte den Kopf schräg und lauschte. Zuerst hörte sie nichts, doch dann drang ein ganz leises Schlurfen zu ihr, nur ein paar Meter entfernt. Jemand schlich sich an, heimlich und entschlossen.
Ree wartete einen Moment, dann schlüpfte sie ans Ende des Ganges und presste sich ganz flach gegen den Metallschrank. Jetzt konnte sie Schritte hören, und sie
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