Die Verlassenen
anderen Studenten”, sagte er fast entschuldigend.
Sie nickte und sah sich um. Außer ihnen beiden war keine Menschenseele hier unten, sodass ein Anflug von Panik sie erfasste, als er auf sie zutrat. Dabei sah er eigentlich ganz harmlos aus in seiner Cordjacke und der Leinenhose.
„Vielleicht kann ich Ihnen behiflich sein. Man fühlt sich hier leicht überfordert, wenn man sich mit dem System nicht auskennt.“
„Sie sagen es. Wie die Sachen hier abgelegt sind, das hat irgendwie weder Hand noch Fuß.“
„Ich bin übrigens Professor Meakin.“
Ree bemerkte, dass er ihr nicht die Hand entgegenstreckte. „Der Historiker?“
„Was? Ja. Ich fühle mich geschmeichelt, dass Sie meinen Namen kennen. Den kennt kaum jemand.“
„Oh. Na ja, vor ein paar Jahren habe ich einmal ein Buch von Ihnen gelesen.“
Das schien ihn riesig zu freuen. „Dann gehe ich davon aus, dass Sie sich für die Ortsgeschichte interessieren. Stammt Ihre Familie aus Charleston?“
„Nein, ich bin hergezogen, um an der Emerson University zu studieren.“
„Aha.“ Ein eigentümliches Lächeln spielte um seine Lippen. „Sie dehnen die Vokale ein bisschen wie die Leute von Lowcountry. Ich denke nicht, dass Sie allzu weit von zu Hause weg sind.“
„Ich stamme aus Trinity. Ein Stück nördlich von hier.“
„Eine reizende kleine Stadt. Ich habe früher manchmal einen Freund dort besucht. Und Ihre Familie lebt immer noch dort?“
„Ja.“
Allmählich machte er ihr ein bisschen Angst, doch Ree versuchte, sich ihre Abneigung nicht anmerken zu lassen, denn sie nahm an, dass das schwerste Verbrechen, dass der arme Kerl je begangen hatte, irgendeine Ungeschicklichkeit im gesellschaftlichen Umgang war.
Sein Blick fiel auf das Buch, das sie in der Hand hielt. „Darf ich?“ Er schaute auf den Buchrücken.
„Ich recherchiere über eine Charlestoner Familie“, erklärte sie. „Könnten Sie mir vielleicht sagen, wo ich die Geburts- und Sterbeurkunden aus der Zeit um 1920 finde?“
„Wie heißt die Familie denn?“
„Tisdale.“
Er überlegte einen Moment. „Etwa die John Braxton Tisdales?“, fragte er dann.
„Ich habe keine Ahnung. Ich weiß nicht einmal, wer das ist ... war.“
Er bedachte sie mit einem vorwurfsvollen Blick. „John Braxton Tisdale war während des Bürgerkriegs einer von General Lees engsten und angesehensten Beratern. Sein Sohn James gehörte während des Spanisch-Amerikanischen Krieges zu Teddy Roosevelts Rough Riders und wurde später in den Senat der Vereinigten Staaten gewählt. Die Familie lebt immer noch in dem Haus an der East Bay, von dem aus John Braxton und der junge James mitangesehen haben, wie Fort Sumter beschossen wurde.“
War das etwa das Haus, in dem man John Tisdale am Morgen ermordet aufgefunden hatte?, fragte sich Ree. „Hatte James Kinder?“
„Zwei Söhne, John und Braxton. Sie sind beide in die Fußstapfen ihres Vaters getreten und in die Politik gegangen. Und er hatte auch noch eine Tochter. Seine zweite Frau hat sie mit in die Ehe gebracht, aber James hat sie adoptiert.“
„Und wie hieß die?“
„Ilsa, glaube ich. Sie war jünger als die Jungen und für die damalige Zeit ziemlich ausschweifend.“
„Wirklich? Was hat sie denn gemacht?“
Er schien überglücklich zu sein, ihre Neugier befriedigen zu können. „Das Übliche. Skandalumwitterte Partys, geschmacklose Affären ... Als sie gerade mal siebzehn war, ist sie mit einem französischen Diplomaten durchgebrannt, einem älteren Herrn. Der hat sie in irgendein einsam gelegenes Schloss in den Alpen verschleppt, und man hat nie wieder etwas von ihr gehört. Das hat damals in der Charlestoner Gesellschaft ziemliches Aufsehen erregt.“
„Hat ihre Familie denn nicht versucht, sie zu finden?“
„Ich bin sicher, dass es irgendeine Form von Kommunikation gegeben hat, aber angesichts der politischen Ambitionen der Familie könnte ich mir vorstellen, dass es ein Segen war, dass das Mädchen nicht mehr hier lebte.“
„Die Tisdales wollten also einfach nichts mehr mit ihr zu tun haben?“
„Eine solche Haltung war in der damaligen Zeit nicht ungewöhnlich. Junge Frauen, die einen schlechten Ruf hatten, wurden oft in irgendein Internat verbannt oder zu Verwandten geschickt, die irgendwo auf dem platten Land lebten.“
„Wissen Sie, ob es damals irgendeinen Skandal gegeben hat, der mit dem Friedhof von Oak Grove zu tun hatte?“
Die Frage schien ihn völlig unvorbereitet zu treffen. Er riss die Augen auf und
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