Die Verlassenen
hatte sich dazu bereit erklärt. Als Hayden Dr. Shaws Büro betrat, schaute dieser neugierig auf und bedeutete ihm mit einer Handbewegung, er möge Platz nehmen. Mit seiner groß gewachsenen Gestalt und seinem würdevollen Auftreten, den wachen blauen Augen und dem dichten weißen Haarschopf war er für Hayden immer der Inbegriff des zerstreuten Professors gewesen.
Der stützte das Kinn auf die zu einem Dach aneinandergelegten Fingerspitzen und wartete, bis Hayden sich niedergelassen hatte. „Sie sind ja noch spät unterwegs. Kommen Sie gerade vom Friedhof zurück?“
„Da war ich heute Nacht nicht“, erwiderte Hayden. „Es ist etwas dazwischengekommen. Und das ist der Grund, warum ich jetzt hier bin. Ich hoffe, dass Sie mir einen Rat geben können. Ich glaube nämlich, dass meine Freundin vom Totengeist einer Frau verfolgt wird, die vor über achtzig Jahren in eine Nervenheilanstalt gesteckt wurde.“
Eine von Dr. Shaws Augenbrauen hob sich ganz leicht. „Ich habe immer schon gefunden, dass psychisch kranke Patienten die faszinierendsten Fälle abgeben. Aber sprechen Sie doch weiter.“
Schnell erzählte Hayden ihm, was Ree erlebt hatte, angefangen mit der Episode auf dem Friedhof von Oak Grove bis zu dem Überfall wenige Stunden zuvor. Nachdem er geendet hatte, saß Dr. Shaw eine Weile nachdenklich da.
„Wo ist Ihre Freundin jetzt?“, wollte er schließlich wissen.
„Bei mir zu Hause. Was ihre körperliche Unversehrtheit betrifft, ist sie dort sicher, aber ich will wissen, wie ich sie vor dem Geist beschützen kann.“ Hayden empfand es als eine grausame Ironie des Schicksals, dass er fast zehn Jahre lang nach Totengeistern gesucht hatte, und jetzt, da er endlich einen gefunden hatte, nicht die geringste Ahnung hatte, was er tun sollte.
„Sie könnten es mit einer Austreibung versuchen.“ Hayden sah ihn an, und Dr. Shaw nickte. „Ja, das sehe ich auch so“, murmelte er.
„Ree ist immer noch nicht überzeugt, auch nicht nach allem, was passiert ist. Sie will glauben, dass sie sich das alles nur einbildet.“
„Haben Sie irgendwelche Hinweise auf eine Besessenheit gesehen? Veränderungen in der Persönlichkeit? Suchtverhalten? Depressionen? Obwohl das nicht nur Symptome dafür sind, dass ein Mensch von Geistern oder Dämonen besessen ist. Es könnte auch für eine Geisteskrankheit sprechen.“
„Das ist mir bewusst“, sagte Hayden ruhig.
„Ja, natürlich ist Ihnen das bewusst.“
Dr. Shaw war einer der wenigen Menschen, die von Jacobs Selbstmord wussten und dass das der Grund war, warum Hayden mit der Jagd auf Geister begonnen hatte.
„Was eine Persönlichkeitsveränderung angeht ... Ich kenne Ree noch nicht sehr lange. Das würde mir also vielleicht gar nicht auffallen. Ich nehme aber an, dass das Schlafwandeln das erste Symptom war“, sagte er.
„Ein Probelauf sozusagen. Vielleicht, um Rees Grenzen auszutesten und auch die eigenen. Nach dem, was Sie mir gerade über Ilsas Geschichte erzählt haben, fürchte ich, dass die Wahrscheinlichkeit einer Kohabitation groß ist. Geister, die eindringen , die sich nicht nur an einen Menschen hängen, sind in aller Regel die Totengeister von Menschen, die zu Lebzeiten süchtig nach irdischen Vergnügungen waren.“
„Also, wie kann ich Ree schützen?“, fragte Hayden ungeduldig. „Sie wird sich nicht selbst schützen.“
„Stellen Sie Kontakt her. Wenn wir davon ausgehen, dass der Totengeist dieser Frau nach einem Medium sucht und nicht nach einem Wirt, müssen Sie einen Weg suchen, wie Sie mit ihr kommunizieren können, damit Sie herausfinden, was ihr Ziel ist. Dann besänftigen Sie sie entweder, oder Sie arbeiten gegen sie. Und wenn Sie können, finden Sie heraus, wo das Hindernis ist, das sie auf der Erde festhält, und räumen es aus dem Weg.“
„Das hört sich gefährlich an.“
„Es kann auch gefährlich sein, aber es wäre noch viel riskanter, wenn Sie nichts tun. Solange sich der Geist im Umkreis ihrer Freundin herumtreibt, werden seine Kräfte wachsen, während Rees Kräfte schwinden.“
Bis sie nur mehr eine leere Hülle ist, dachte Hayden. Er erinnerte sich an die letzten Tage mit Jacob. An die tief in den Höhlen liegenden Augen, die eingefallenen Wangen, die bleiche Hautfarbe wie bei einer wandelnden Leiche. Und er wusste, dass er alles tun würde, um zu verhindern, dass mit Ree das Gleiche passierte.
„Es könnte sogar hilfreich sein, dass Ihre Freundin nicht daran glaubt“, sagte Dr. Shaw. „Ein negativer Geist
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