Die verlorene Bibliothek: Thriller
geworden.
Der Sekretär trank einen kräftigen Schluck und knirschte mit den Zähnen, noch bevor die goldene Flüssigkeit seine Zunge passiert hatte. Normalerweise trank er morgens keinen Alkohol, aber er hatte die vergangene Nacht ohnehin nicht geschlafen, und Tag und Nacht bedeuteten keinen Unterschied mehr.
Allein die Erinnerung an den Moment trieb ihn schon wieder zur Weißglut. Ewan hatte um sich geschlagen und ein Regal nach dem anderen umgeworfen. Er hatte sogar seinen eigenen Sohn geschlagen, als wäre der an allem schuld. Jason hatte noch nicht einmal mit der Wimper gezuckt, denn während das leere Gewölbe seinen Vater hatte durchdrehen lassen, hatte er sich wie tot gefühlt. Mit leerem Blick hatte Jason in die verlassene Kammer gestarrt, und langsam hatte seine Enttäuschung sich in Verbitterung gewandelt.
Nun, in den frühen Stunden des Morgens danach, hatte der Zorn des Sekretärs sich langsam in Entschlossenheit verwandelt. Auch wenn es zunächst so ausgesehen hatte, als sei sein ganzes Leben umsonst gewesen, jetzt erkannte er, dass die Jagd lediglich ein neues Stadium erreicht hatte wie schon so oft in der Geschichte des Rates. Er hatte gehofft, das Rätsel endlich gelöst und das Spiel gewonnen zu haben; doch jetzt war klar, dass es noch ein wenig dauern würde. Außerdem stand die Mission in Washington wenige Stunden vor ihrem Abschluss. Die Verhaftung des Präsidenten würde um 10:00 Uhr Ortszeit erfolgen, also um 15:00 Uhr englischer Zeit. Ewan schaute zu der Uhr auf dem Schreibtisch. Noch zehn Stunden, dann würde er den mächtigsten Staat der Welt beherrschen, egal ob die Bibliothek nun in seinem Besitz war oder nicht. Nun war es seine Aufgabe, als Oberhaupt des Rates sich ganz auf diesen Machtgewinn zu konzentrieren und die nötigen Schritte einzuleiten, um die Tragödie des vergangenen Tages in etwas Produktives zu verwandeln.
Jason betrat den Raum, und der Sekretär wurde aus seinen Gedanken gerissen.
»Sir, es gibt Neuigkeiten.« Jason stand in der Tür, das linke Auge geschwollen vom Schlag seines Vaters am Tag zuvor.
»Und was?«
»Wess hat nach ihrer Landung jemanden angerufen.« Jason wartete auf den Wutausbruch seines Vaters. Irgendwie war es Emily Wess gelungen, aus Istanbul zu fliehen, bevor das örtliche Team sie hatte eliminieren können. Der Rat wusste, dass sie noch einmal nach Alexandria geflogen war, wo sie ohne Zweifel von der Hinrichtung Antouns erfahren hatte. Anschließend war sie nach England weitergereist. Ihr Name stand auf der Passagierliste eines Nachtfluges nach Heathrow, doch Wess hatte sorgfältig darauf geachtet, ansonsten so gut wie keine Spuren zu hinterlassen. Nachdem sie in Ägypten eine große Summe Bargeld abgehoben hatte, hatte sie ihre Karten nicht mehr benutzt, und auch das Signal ihres Ersatzhandys war in Afrika verstummt.
Nicht schlecht für einen Amateur , hatte Ewan gedacht, als er davon erfahren hatte. Sie hat es sogar geschafft, ihren Verlobten vor uns in Sicherheit zu bringen. Die Frau nötigte ihm Respekt ab, doch die Situation ärgerte ihn. Seit Emily Wess ihn aus Istanbul angerufen hatte, war es den Freunden nicht gelungen, Michael Torrance zu lokalisieren. Vermutlich hatte sie ihm geraten, sich zu verstecken, und seitdem suchten ihn zwei Freunde des Sekretärs – vergeblich. Aber natürlich würden sie Torrance irgendwann finden. Trotzdem, Ewan bedauerte seine Entscheidung, Emily am Leben zu lassen, bis Antoun erledigt war.
»Und wen hat sie angerufen?«, verlangte der Sekretär zu wissen.
»Peter Wexler. Aus einer Telefonzelle in Oxford.«
»Dann ist sie also hier«, sinnierte Ewan.
»Der Anruf«, fuhr Jason fort, »er war sehr … detailliert. Sie hat Wexler von der Liste erzählt und von der Mission in Washington. Antoun hat ihr verraten, dass …«
»Antoun?«, unterbrach ihn der Sekretär. »Ich dachte, wir hätten dieses Leck gestern gestopft.«
Jason lief rot an, was neuen Schmerz in seinem Auge provozierte.
»Unsere Männer haben ihn wie befohlen exekutiert, aber offenbar ist etwas schiefgelaufen. Er hat noch gelebt, als Wess in seinem Büro eingetroffen ist, und zwar lange genug, um ihr etwas Wichtiges zu erzählen … für sie und für uns.«
Wieder musste Ewan gegen seine aufkeimende Wut ankämpfen. Seine Männer hatten versagt, und das bei so einer einfachen Aufgabe. Dafür würden sie bezahlen.
»VERDAMMT NOCH MAL!«, brüllte der Sekretär. »Dieses Weib ist wirklich ein Stachel in meinem Fleisch!« Er schlug mit
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