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Die verlorenen Spuren: Roman (German Edition)

Die verlorenen Spuren: Roman (German Edition)

Titel: Die verlorenen Spuren: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kate Morton
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hätte ich mir doch nicht entgehen lassen.«
    »Natürlich nicht.«
    »Ich wäre früher gekommen, wenn das Interview nicht gewesen wäre.«
    »Ich weiß.«
    »Und ich würde länger bleiben, wenn die Proben nicht wären. In vierzehn Tagen fangen die Dreharbeiten an.«
    »Ich weiß.« Rose drückte Laurels Hand noch fester, wie um ihre Worte zu unterstreichen. »Mummy wird glücklich sein, wenn sie erfährt, dass du überhaupt gekommen bist. Sie ist so stolz auf dich, Lol. Das sind wir alle.«
    Lob von Angehörigen war lästig, und Laurel überging die Bemerkung. »Und die anderen?«
    »Sind noch nicht da. Iris steckt im Stau, und Daphne trifft erst heute Nachmittag ein. Sie kommt vom Flughafen aus direkt zum Haus. Sie will von unterwegs noch mal anrufen.«
    »Und Gerry? Wann kommt er?«
    Es war ein Scherz, und selbst Rose, die nette Nicolson, die Einzige, die nicht ständig über andere lästerte, musste kichern. Ihr Bruder berechnete Kalender für kosmische Distanzen, mit denen man die Position weit entfernter Galaxien exakt berechnen konnte, aber fragte man ihn, wann er ankommen würde, war er ratlos.
    Sie folgten dem Korridor um eine Ecke bis zu der Tür, an der »Dorothy Nicolson« stand. Rose legte die Hand auf den Türknauf, zögerte jedoch, ehe sie ihn drehte. »Bekomm keinen Schreck, Lol«, sagte sie. »Mummy hat ziemlich abgebaut, seit du das letzte Mal hier warst. Es geht auf und ab mit ihr. Mal ist sie ganz die Alte, und dann wieder …« Roses Lippen zitterten, und sie umfasste ihre lange Perlenhalskette. Beinahe flüsternd fuhr sie fort: »Manchmal ist sie verwirrt, und manchmal regt sie sich richtig auf, dann erzählt sie von der Vergangenheit, sagt Dinge, die ich manchmal nicht verstehe. Die Schwestern meinen, das hat nichts zu bedeuten, das passiert oft, wenn die Leute … wenn die Leute das Stadium erreichen, in dem Mummy sich jetzt befindet. Die Schwestern geben ihr dann ein Medikament; es soll sie eigentlich nur beruhigen, aber es macht sie immer ganz benommen. Ich würde heute nicht zu viel erwarten.«
    Laurel nickte. Der Arzt hatte ihr ungefähr das Gleiche gesagt, als sie vor einer Woche angerufen hatte, um sich nach dem Zustand ihrer Mutter zu erkundigen. Er hatte sich zu Formulierungen verstiegen wie »die letzte Reise antreten«, und »den Weg allen Fleisches gehen«, von »Heimgang« war die Rede – und dies in einem so salbungsvollen Ton, dass Laurel sich nicht hatte verkneifen können zu fragen: »Wollen Sie damit sagen, dass meine Mutter im Sterben liegt?« Sie hatte mit kalter Autorität gesprochen, nur um ihn stottern zu hören. Er tat ihr den Gefallen, aber die Befriedigung darüber war nur von kurzer Dauer gewesen – bis er schließlich mit der Antwort herausrückte.
    Ja.
    Es war wie ein Urteil.
    Rose drückte die Tür auf – »Schau mal, Mummy, wer da ist!« –, und Laurel wurde bewusst, dass sie den Atem anhielt.
    In Laurels Kindheit hatte es eine Zeit gegeben, da hatte sie Angst gehabt. Vor der Dunkelheit, vor grausamen Zombies, vor fremden Männern, die in dunklen Ecken lauerten, wie Grandma Nicolson immer wieder behauptete, um sich kleine Mädchen zu schnappen und ihnen schlimme Dinge anzutun. (Was für Dinge? Schlimme Dinge. Es wurde nie mehr gesagt, was die Gefahr umso bedrohlicher wirken ließ.) Ihre Großmutter war sehr überzeugend gewesen, und Laurel hatte in der bleiernen Gewissheit gelebt, dass es nur eine Frage der Zeit war, bis das Schicksal sie ereilte.
    Manchmal waren ihre Ängste so übermächtig geworden, dass sie nachts schreiend aufwachte, weil ein Zombie im dunklen Wandschrank hockte und sie durch das Schlüsselloch beobachtete, bereit, ihr schlimme Dinge anzutun. »Schsch, Kleines«, hatte ihre Mutter geflüstert, »es war nur ein Traum. Du musst lernen, zwischen Wirklichkeit und Einbildung zu unterscheiden. Das ist nicht immer einfach – ich habe lange gebraucht, um es zu lernen, viel zu lange.« Und dann hatte sie sich zu ihr ins Bett gelegt und gesagt: »Soll ich dir eine Geschichte erzählen? Von einem kleinen Mädchen, das von zu Hause wegläuft, um zum Zirkus zu gehen?«
    Es war schwer zu glauben, dass die starke Frau, die jeden nächtlichen Schrecken hatte verbannen können, dieses bleiche Geschöpf war, das da in dem Krankenhausbett lag. Laurel hatte geglaubt, sie sei auf die Situation vorbereitet. Sie hatte Freunde sterben sehen, sie wusste, wie der Tod aussah, sie hatte einen BAFTA -Award gewonnen für ihre Darstellung einer Frau mit Krebs im

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