Die verlorenen Spuren: Roman (German Edition)
Endstadium. Aber das war etwas anderes. In dem Bett lag ihre Mutter. Am liebsten hätte sie auf dem Absatz kehrtgemacht.
Aber das tat sie nicht. Rose, die vor dem kleinen Regal stand, nickte ihr aufmunternd zu. Laurel rettete sich in die Rolle der pflichtbewussten Tochter, trat ans Bett und nahm die knochige Hand ihrer Mutter. »Hallo«, sagte sie. »Ich bin’s.«
Dorothys Augen öffneten sich kurz und schlossen sich wieder. Ihre Brust hob und senkte sich kaum merklich, als Laurel sich hinunterbeugte und einen Kuss auf die papierdünne Haut ihrer Wangen drückte.
»Ich habe dir was mitgebracht. Ich konnte nicht bis morgen warten.« Sie stellte ihre Sachen ab und nahm das kleine Päckchen aus ihrer Handtasche. Anstandshalber wartete sie einen Moment, dann wickelte sie das Geschenk aus. »Eine Haarbürste«, sagte sie und drehte die Bürste an ihrem silbernen Griff hin und her. »Mit ganz weichen Borsten – Wildschweinhaar, glaube ich. Ich habe sie in einem Antiquitätenladen in Knightsbridge gefunden. Ich habe deine Initialen darauf gravieren lassen – schau mal, hier. Soll ich dir das Haar bürsten?«
Sie hatte nicht mit einer Antwort gerechnet, und es kam auch keine. Laurel fuhr zärtlich mit der Bürste durch die feinen weißen Strähnen, die sich auf dem Kopfkissen wie ein Strahlenkranz ausbreiteten, Haar, das einmal kräftig und dunkelbraun gewesen war und sich jetzt zu verflüchtigen drohte. »So«, sagte sie und legte die Bürste so auf dem Regal ab, dass das Licht auf die Gravur fiel. Ein elegant geschwungenes großes D. »So ist es schön.«
Rose musste das irgendwie gefallen haben, denn sie reichte ihr das Fotoalbum, das sie aus dem Regal genommen hatte, und flüsterte, sie wolle in die Küche gehen, um Tee aufzusetzen.
Jede Familie hatte ihre Rollenaufteilung, da bildeten die Nicolsons keine Ausnahme. Laurel setzte sich auf einen orthopädisch wirkenden Stuhl am Kopfende des Betts und schlug vorsichtig das alte Buch auf. Das erste Foto war in Schwarz-Weiß, inzwischen verblasst und übersät mit braunen Sprenkeln. Unter den Stockflecken war eine junge Frau mit Kopftuch für immer in einem Schreckmoment festgehalten. Sie blickte von etwas auf, mit dem sie gerade beschäftigt war, und hatte eine Hand gehoben, um den Fotografen zu verscheuchen. In ihrem Gesicht lag ein angedeutetes Lächeln, in ihren Unmut mischte sich Belustigung, und sie schien etwas zu sagen, an das sich längst niemand mehr erinnerte. Ein Scherz, hatte Laurel sich immer vorgestellt, eine witzige Bemerkung zu der Person hinter der Kamera. Wahrscheinlich einer von Grandmas zahlreichen, längst vergessenen Gästen: ein Handelsreisender, ein einsamer Urlauber, irgendein stiller Bürokrat mit polierten Schuhen, der den Krieg bei einer »kriegsnotwendigen Tätigkeit« aussaß. Ein schmaler Streifen ruhigen Meers war im Hintergrund erkennbar, aber nur, wenn man wusste, dass es da war.
Laurel hielt das Album über den reglosen Körper ihrer Mutter und begann zu erzählen. »Das bist du, Ma, in Grandma Nicolsons Pension. Es ist 1944, kurz vor Ende des Kriegs. Mrs. Nicolsons Sohn ist noch nicht aus dem Krieg heimgekehrt, aber er wird bald kommen. In wenigen Wochen wird sie dich in die Stadt schicken mit den Essensmarken, und wenn du mit den Einkäufen zurückkommst, wird ein Soldat am Küchentisch sitzen, ein Mann, den du noch nie gesehen hast, den du aber von dem Foto erkennst, das auf dem Kaminsims steht. Als ihr euch kennenlernt, ist er älter als auf dem Foto, und trauriger, aber er trägt dieselbe Kakiuniform, und er lächelt dich an, und du weißt sofort, dass er derjenige ist, auf den du gewartet hast.«
Laurel blätterte die Seite um und glättete mit dem Daumen die Ecke des vergilbten Schutzblatts aus Seidenpapier. »Dein Hochzeitskleid hast du dir selbst aus zwei Spitzengardinen aus einem der oberen Gästezimmer der Pension genäht, die Grandma Nicolson dafür geopfert hat. Alle Achtung, Ma, das war bestimmt nicht einfach, sie dazu zu überreden. Wir wissen ja alle, wie Grandma an ihren Gardinen hing. Du hattest Angst, dass es bei eurer Hochzeit regnen würde, weil es in der Nacht vorher ein Gewitter gegeben hatte. Aber es hat nicht geregnet. Die Sonne ging auf, und der Wind blies die Wolken fort, und die Leute sagten, es sei ein gutes Omen. Trotzdem bist du auf Num mer sicher gegangen und hast dafür gesorgt, dass Mr. Hatch, der Schornsteinfeger, als Glücksbringer vor den Kirchenstufen stand. Die Aufgabe kam ihm gerade recht,
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