Die verlorenen Spuren: Roman (German Edition)
konnte, wenn sie ausnahmsweise mal nicht eingeschnappt war.
Etwas fiel hinten aus dem Album, und Laurel bückte sich, um es aufzuheben. Es war ein Foto, das sie noch nie gesehen hatte, eine alte Schwarz-Weiß-Aufnahme von zwei jungen Frauen, die einander untergehakt hatten. Sie standen in einem Raum voller Luftschlangen; Sonnenlicht fiel durch ein Fenster, das nicht zu sehen war, und sie lachten Laurel aus dem weißen Rahmen heraus an. Sie drehte es um, auf der Suche nach einem Kommentar, aber auf der Rückseite stand nur das Datum: Mai 1941 . Wie seltsam. Laurel kannte das Familienalbum in-und auswendig, und dieses Foto, diese beiden Frauen, gehörten nicht dazu. Die Tür ging auf, und Rose kam wieder herein, zwei unterschiedliche Teetassen in den Händen, die auf ihren Untertassen klapperten.
Laurel hielt das Foto hoch. »Hast du das schon mal gesehen, Rosie?«
Rose stellte eine Tasse auf dem Nachttisch ab, betrachtete das Foto mit zusammengekniffenen Augen und lächelte. »Ja, ja«, sagte sie. »Es ist vor ein paar Monaten in Greenacres aufgetaucht – ich dachte, du könntest es irgendwo ins Album einsortieren. Ist sie nicht hübsch? Wie schön, etwas Neues von ihr zu entdecken, nicht wahr? Vor allem jetzt.«
Laurel betrachtete noch einmal das Foto. Die beiden jungen Frauen mit den Haarrollen auf beiden Seiten und knielangen Röcken. Die eine hielt lässig eine Zigarette in der Hand. Das war natürlich ihre Mutter. Sie war anders geschminkt. Sie war insgesamt anders.
»Komisch«, sagte Rose. »So habe ich sie mir nie vorgestellt.«
»Wie?«
»So jung. Wie sie mit einer Freundin herumgackert.«
»Nicht? Warum nicht?« Aber Laurel ging es genauso. In ihrer Vorstellung – und anscheinend ebenso in der Vorstellung ihrer Schwestern – war ihre Mutter ins Leben getreten, als sie auf Grandma Nicolsons Kleinanzeige hin an die Küste gekommen war und als Zimmermädchen in der Pension angefangen hatte. Natürlich kannten sie die Fakten: dass sie in Coventry geboren und aufgewachsen war, dass sie kurz vor Ausbruch des Kriegs nach London gegangen war, dass ihre gesamte Familie bei einem Bombenangriff ums Leben gekommen war. Laurel wusste auch, dass der Verlust der Familie ihre Mutter tief getroffen hatte. Dorothy Nicolson hatte keine Gelegenheit ausgelassen, ihre Kinder daran zu erinnern, dass die Familie das Wichtigste im Leben war; es war das Mantra von Laurels Kindheit gewesen. Einmal, als sie gerade eine besonders schlimme pubertäre Phase durchmachte, hatte ihre Mutter sie an den Händen genommen und gesagt: »Mach es nicht wie ich, Laurel. Warte nicht zu lange, bis du erkennst, was wichtig ist. Deine Familie mag dir ja manchmal das Leben schwermachen, aber sie ist mehr wert, als du dir vorstellen kannst.«
Über die Einzelheiten ihres Lebens vor ihrer ersten Begegnung mit Stephen Nicolson hatte Dorothy ihren Kindern nie etwas erzählt, und sie waren auch nicht auf die Idee gekommen, sie danach zu fragen. Das war nichts Ungewöhnliches, dachte Laurel mit leichtem Unbehagen. Kinder erwarteten von ihren Eltern keine Vergangenheit, ja, sie empfanden es als irgendwie unglaublich, nahezu peinlich, wenn Eltern etwas von einem Vorleben durchblicken ließen. Aber als Laurel jetzt das Gesicht dieser Fremden aus Kriegszeiten betrachtete, empfand sie diese Wissenslücke als sehr schmerzlich.
In ihrer Anfangszeit als Schauspielerin hatte ihr einmal ein bekannter Regisseur erklärt, sie habe nicht das Gesicht für eine Hauptrolle. Sie hatte sich zutiefst gekränkt gefühlt, hatte geheult und getobt, sich stundenlang immer wieder im Spiegel betrachtet und sich schließlich in einem Anfall von Selbstzerstörungswut das lange Haar zentimeterkurz geschnitten. Das war der Beginn ihrer Karriere gewesen. Sie wurde zur Charakterdarstellerin. Besagter Regisseur hatte sie als Schwester der weiblichen Hauptrolle besetzt, und sie war von der Kritik hoch gelobt worden. Man staunte über ihre Wandlungsfähigkeit, die sie immer wieder neu unter Beweis stellte. Und es war kein Trick dabei; sie versuchte lediglich jedes Mal, das Geheimnis der Figur zu ergründen. Denn damit kannte Laurel sich aus. Sie war überzeugt, dass jeder Mensch über einen charakteristischen Makel verfügte, den er vor den anderen Menschen verbarg.
»Weißt du, dass wir noch nie ein Bild von ihr gesehen haben, auf dem sie so jung ist?« Rose setzte sich auf die Armlehne von Laurels Sessel und nahm das Foto. Der Duft nach Lavendel erfüllte den Raum.
»Wirklich
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