Die Vermessung der Lust (German Edition)
über zehn Jahren aber nicht mehr aktuellen Erfüllung ehrlicher Pflichten einmal ausgenommen.
Einem solchen Mann verfiel man nicht. Den schätzte man. Bei dem fühlte man sich geborgen. Dem war man dankbar für die ganze Geduld und Unterstützung, er hatte ihr das Studium ermöglicht, Konrad, der leitende V erwaltungsangestellte, stolz auf sein junges und gescheites Weibchen, merkwürdigerweise ohne eine Spur von Eifersucht, als wisse er genau, dass Madeleine, wenn sie Männer roch, sich nicht anders verhielt als wenn sie Rosenkohl roch. Irgendwie unangenehm berührt. Rosenkohl konnte sie auf den Tod nicht ausstehen.
Zahlen und Kurven, Tabellen und Statistiken. Madeleine klemmte sich das Bündel Papier unter den Arm und eilte zügigen Schritts durch die Laborräume, sie sehnte sich nach der Stille ihres Büros. In weniger als einer Stunde hätten die Doktoranden die Ergebnisse des Experiments elektronisch ausgewertet, die Papierausdrucke waren mithin überflüssig, doch Madeleine liebte das Rascheln der Blätter, sie war hoffentlich altmodisch, aber zum Glück nicht romantisch.
Wie war sie eigentlich auf die Idee gekommen, die Anziehungskraft des männlichen auf das weibliche Geschlecht zu erforschen? Sie wusste es nicht mehr genau. Vielleicht weil es sie nicht interessierte, was Frauen für Männer attraktiv machte? Nein, das nicht. Die schlichte Wahrheit war wohl, dass sie nach einem Projekt suchte, dem möglichst viele Sponsoren möglichst viel Geld spendierten. Oder gab es doch einen anderen Grund? Sie hätte auch mit Mäusen experimentieren können, das machte man so in der Psychologie. Warum fressen männliche Mäuse weniger, wenn Weibchen in der Nähe sind? Oder fressen sie etwa mehr? Schon beim Gedanken an Mäuse – oder gar Ratten – schüttelte es Madeleine.
Und welche Ergebnisse erhoffte sie sich eigentlich? Eine Formel. Madeleine würde eine Formel finden, mit mehreren Variablen natürlich, die es ermöglichte, die Attraktivität eines bestimmten Mannes auf eine bestimmte Frau vorherzusagen. In dieser Formel stand der Faktor X für nichts weniger als das Glück. Aber bis dahin war es noch ein weiter Weg. Hätte sie Erfolg, Madeleine wäre mit einem Schlag weltberühmt, auf einer Stufe mit Einstein oder Freud... nicht dass sie sich etwas aus Ruhm machte... okay, ein bisschen konnte nicht schaden. Sie würde in Talkshows eingeladen werden und ertappte sich manchmal bei der Überlegung, was sie dann anziehen sollte. Keinen Rock! Im Fernsehen werden Beine optisch immer verkürzt, das hatte sie in einer Frauenzeitschrift gelesen, und die ihren waren eh nicht sehr lang.
In ihrem Büro setzte sie sich hinter den Schreibtisch und lauschte dem gleichmäßigen Summen des Ventilators. Draußen überzog die Sommersonne alles mit ihrem aufdringlichen Licht, Vögel taten was Vögel nun einmal tun, wenn sie mit warmem Gefieder auf Bäumen herumlungern. Sie machten auf sich aufmerksam, sie lockten mit süßen Tönen und grellen Farben, nur einer einzigen Betätigung willen, an deren Ende ein paar Eier produziert worden wären.
Und die Menschen machten es genauso. Ein Gruppe Studierender ging am Fenster vorbei und tat es den Vögeln nach. Man plapperte, man zwitscherte, die Gefieder waren leichte bunte Stoffe – oder besser noch: die Stellen am Körper, die nicht von Stoffen bedeckt waren.
Bei dem Gedanken musste Madeleine lächeln. Gut, dass sie niemand dabei beobachtete. Gefühlsäußerungen, positive gar, gehörten nicht zu ihrem emotionalen Repertoire. Hier und da eine hochgezogene Augenbraue (die linke, wenn sie sich über etwas echauffierte, die rechte, wenn sie belustigt war, beide, wenn sie nicht wusste, ob sie sauer oder fröhlich sein sollte), vielleicht im Extremfall leicht nach oben gezogene Mundwinkel, zum Beispiel wenn sie einen guten Witz gehört hatte. Warum hat die Natur den Mann nicht mit einer Dauererektion ausgestattet? Weil die Frauen sie dann nur als Garderobenständer nützlich fänden. Ha, ha.
Es klopfte. Dora und Lars. Nach den Experimenten besprachen sie die Ergebnisse im kleinen Kreis, man kochte Kaffee – meistens kochte Dora ihn – und knabberte sich durch die Gebäckmischung »Süßes Intermezzo«, die standardmäßig bei Konferenzen und anderen Zusammenkünften gereicht wurde. Maya, Madeleines Sekretärin, hatte heute frei, also bracht Dora ein kleinen Teller aufgehäufter Süßigkeiten mit, Lars balancierte das Tablett mit der Kaffeekanne und den Tassen.
»Irgendetwas
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