Die Vermessung des Universums: Wie die Physik von morgen den letzten Geheimnissen auf der Spur ist (German Edition)
mit Tatsachen zu beginnen, die aus Experimenten bekannt sind, und wenden sich dann den übriggebliebenen rätselhaften und unerklärten Aspekten zu – wobei sie häufig eher theoretische mathematische Überlegungen anwenden. Das letzte Kapitel stellte einige konkrete Beispiele von Modellen vor und zeigte, wie diese die Suche der Experimentalphysiker am LHC beeinflussen.
Andere, vor allem die Stringtheoretiker, verfolgen eine »deduktive« Denkweise, indem sie mit der Theorie beginnen, die sie für wahr halten – nämlich der Stringtheorie –, und versuchen dann, mit deren grundlegenden Begriffen eine widerspruchsfreie Theorie der Quantengravitation zu formulieren. Deduktive Theorien sind bei hohen Energien und kleinen Entfernungen definiert. Die Bezeichnung bezieht sich auf die theoretische Vorstellung, dass sich alles von grundlegenden Prämissen ableiten lässt, die auf Skalen hoher Energie definiert sind. Obwohl der Name verwirrend sein kann, weil hohe Energien kurzen Entfernungen entsprechen, sollte man sich daran erinnern, dass die auf kurze Entfernungen existierenden Elemente die grundlegenden Bausteine der Materie sind. Dieser Denkweise zufolge lässt sich alles von grundlegenden Prinzipien und fundamentalen Elementen ableiten, die bei kleinen Entfernungen und hohen Energien definiert sind – daher die Bezeichnung »deduktiv«.
Dieses Kapitel befasst sich mit den deduktiven und den induktiven Ansätzen und den Aspekten, in denen sie sich voneinander unterscheiden. Wir werden die Unterschiede untersuchen, aber auch darüber nachdenken, wie beide Ansätze sich gelegentlich einander annähern und dann zu bemerkenswerten Erkenntnissen führen.
Die Stringtheorie
Im Unterschied zu Modellentwicklern versuchen Physiker mit stärker ausgeprägten mathematischen Neigungen, von der reinen Theorie auszugehen. Die Hoffnung besteht darin, dass man mit einer einzigen eleganten Theorie anfängt, Folgerungen daraus ableitet und erst dann die Ideen auf die Daten anwendet. Fast jeder Versuch, eine vereinheitlichte Theorie zu entwickeln, verkörpert einen solchen deduktiven Ansatz. Die Stringtheorie ist vielleicht das prominenteste Beispiel dafür. Sie ist eine Hypothese über den fundamentalsten zugrunde liegenden Rahmen, aus dem im Prinzip alle anderen bekannten Phänomene der Physik folgen.
Stringtheoretiker machen einen großen Sprung im Hinblick auf die physikalischen Skalen, die sie zu erobern versuchen, indem sie von der schwachen Skala zur Planckskala übergehen, auf der die Gravitation stark wird. Wahrscheinlich wird man in der nahen Zukunft diese Ideen nicht durch Experimente überprüfen können (obwohl die extra-dimensionalen Modelle des letzten Kapitels eine Ausnahme darstellen mögen). Aber obwohl die Stringtheorie selbst schwierig zu überprüfen ist, liefern Elemente der Stringtheorie Ideen und Begriffe, die von potentiell beobachtbaren Modellen aufgenommen werden.
Die Frage, die sich die Physiker stellen, wenn sie eine Entscheidung zwischen der Modellentwicklung und der Stringtheorie treffen, besteht darin, ob sie den platonischen Ansatz befolgen sollen, der versucht, Erkenntnisse aus einer grundlegenderen Wahrheit zu gewinnen, oder den aristotelischen, der in empirischen Beobachtungen verwurzelt ist. Wählt man den »deduktiven« oder den »induktiven« Ansatz? Diese Wahl könnte auch mit »der alte Einstein versus der junge Einstein« bezeichnet werden. Einstein machte ursprünglich Gedankenexperimente, die auf physikalischen Situationen beruhen. Dennoch schätzte er auch Schönheit und Eleganz. Selbst wenn ein experimentelles Ergebnis seinen Ideen bezüglich der speziellen Relativitätstheorie widersprach, entschied er sich zuversichtlich (und letztendlich richtig) dafür, dass das Experiment falsch sein musste, da seine Auswirkungen zu hässlich wären, um glaubhaft zu sein.
Einstein entwickelte stärkere mathematische Neigungen, nachdem die Mathematik ihm schließlich dabei half, seine Allgemeine Relativitätstheorie zu vollenden. Da Fortschritte in der Mathematik für die Vollendung seiner Theorie entscheidend waren, hatte er während seiner späteren Laufbahn größeres Vertrauen in theoretische Methoden. Das Problem lässt sich jedoch nicht lösen, wenn man auf Einstein blickt. Trotz seiner erfolgreichen Anwendung der Mathematik auf die Allgemeine Relativitätstheorie trug seine spätere mathematische Suche nach einer vereinheitlichten Theorie nie Früchte.
Die große vereinheitlichte
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