Die Vermissten - Casey, J: Vermissten - The Missing
Aber inzwischen glaube ich nicht mehr daran, dass sie von allein wieder auftauchen wird.« Er fuhr sich durch die Haare und grub seine Fingernägel in die Kopfhaut. » Gestern haben sie den Fluss abgesucht, die Bahnstrecke in der Nähe unseres Hauses, den Stausee an der A3 und den Wald. Aber sie haben nichts gefunden.«
Ich fragte mich, ob ihm vielleicht entgangen war, was die Suche in diesen Gegenden zu bedeuten hatte. Ganz gleich, was die Eltern glaubten, die Polizei war offenbar zu der Überzeugung gelangt, dass sie nach einer Leiche suchen musste.
Ehe ich michs versah, war ich am Waldrand angelangt. Ich legte einen Schritt zu, schlüpfte zwischen zwei Eichen hindurch und folgte einem kaum erkennbaren Pfad, der sich kurz darauf gabelte. Von rechts kam mir ein schokoladenbrauner Labrador entgegengestürmt, im Schlepptau eine schlanke ältere Dame, die tadellos gekleidet und perfekt geschminkt war. Der Hund sah zwar nicht aus, als würde er sich schnell losreißen, aber trotzdem bog ich nach links ab, wo normalerweise weniger Leute unterwegs waren. Der Pfad, den ich einschlug, sah unwegsam aus. Er führte direkt in den Wald hinein, wo die Wege schmal und steil wurden und gelegentlich unerwartet im Dickicht endeten. Die Wege näher zur Straße hin waren bei Hundebesitzern beliebt und daher breit und eben. Ein breiter, ausgetretener Pfad würde mich jedoch nicht von der düsteren, hämmernden Anspannung ablenken, die schon den ganzen Tag erbarmungslos in meinem Kopf dröhnte. Ich lief bergauf und dachte an Jennys Vater.
Die Stille im Klassenzimmer wurde erneut gestört, diesmal durch Scharren, Schritte und Stimmen vor der Tür. Es waren Jennys Mitschüler von der 8a. Gelächter war zu hören, und Michael Shepherd zuckte zusammen.
Ich holte sie herein und bat sie, rasch ihre Plätze einzunehmen. Als sie sahen, dass die Direktorin und ein Vater anwesend waren, machten sie große, neugierige Augen, denn das war natürlich um Längen spannender, als über Jane Eyre zu reden. Michael Shepherd straffte die Schultern, als müsse er gleich eine Runde im Boxring bestreiten, und trat dann vor die Mitschülerinnen seiner Tochter. Die Opferrolle behagte ihm ganz und gar nicht. Er war in die Schule gekommen, weil er das Bedürfnis hatte, etwas zu tun. Er wollte nicht herumsitzen und auf die Polizei warten, sondern tun, was er für richtig hielt, und sich um die Konsequenzen später kümmern.
Als alle stumm vor Erwartung auf ihren Plätzen saßen, wandte sich Elaine an die Klasse.
» Einige von euch werden Mr. Shepherd sicher kennen. Für diejenigen, denen er unbekannt ist: Er ist Jennifers Vater. Ich möchte, dass ihr aufmerksam zuhört, was er zu sagen hat. Falls ihr ihm irgendwie helfen könnt, erwarte ich von euch, dass ihr es auch tut.«
Die Klasse nickte gehorsam. Auf Elaines Zeichen kam Michael Shepherd nach vorn. Er schaute sich um und wirkte ein wenig verunsichert.
» In euren Schuluniformen seht ihr ganz anders aus«, sagte er schließlich. » Einige von euch kenne ich ja schon, aber ich weiß nicht so recht…«
Eine Welle der Erheiterung ging durch die Reihen, und auch ich musste mir ein Lächeln verkneifen. Mir war es selbst schon so gegangen, wenn ich Schülerinnen von mir am Wochenende in der Stadt traf. Ohne die Uniform sahen sie immer wesentlich älter und viel schicker aus. Wirklich verwirrend.
Schließlich erkannte er doch noch ein paar von den Mädchen. » Hallo Anna, Rachel…«
Sie erröteten, murmelten einen Gruß und waren geschmeichelt und erschrocken zugleich, direkt angesprochen zu werden.
» Das hört sich jetzt wahrscheinlich komisch an«, begann er und versuchte zu lächeln, » aber wir haben unsere Tochter verloren. Sie ist nun schon seit ein paar Tagen verschwunden, und ich möchte euch fragen, ob jemand von euch etwas von ihr gehört hat oder eine Idee hat, wo sie sein könnte.« Er wartete einen Augenblick, aber niemand meldete sich zu Wort. » Ich weiß, dass es viel verlangt ist– bestimmt hat Jenny ihre Gründe, weshalb sie nicht nach Hause kommt. Aber ihre Mutter ist sehr besorgt und ich natürlich auch. Wir wollen einfach nur wissen, dass es ihr gut geht. Falls ihr sie nicht gesehen habt, möchte ich von euch wissen, ob jemand seit Samstagabend Kontakt mit ihr hatte– per SMS, E-Mail oder wie auch immer.«
Aus der Klasse kam ein unisono gemurmeltes » Nein«.
» In Ordnung, also ich bitte euch zu überlegen, wann ihr das letzte Mal etwas von Jenny gehört habt und was sie da
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