Die Vermissten - Casey, J: Vermissten - The Missing
erschien mir plötzlich seltsam still. Mühsam setzte ich mich auf die Fersen und begutachtete die Folgen meines Missgeschicks. Nichts gebrochen, kein Blut. Ein Glück. Ich rieb den Schmutz von meinen Händen und Knien. Prellungen, allenfalls eine Schramme am rechten Handballen, nichts Ernsthaftes. Ich stand auf, stützte mich an einem nahe stehenden Baumstamm ab und verzog das Gesicht, als ich meine Beine ausstreckte. Ich war heilfroh, dass niemand meinen Sturz beobachtet hatte. Dann beugte ich mich nach vorn, dehnte meine hinteren Beinmuskeln, lief im Kreis herum und versuchte mich zum Weiterlaufen zu motivieren.
Als ich gerade wieder aufbrechen wollte, hielt ich nochmals inne. Irgendetwas stimmte nicht. Aus dem Augenwinkel hatte ich etwas bemerkt, das dort nicht hingehörte. Zu diesem Zeitpunkt war ich noch nicht einmal beunruhigt, obwohl ich den ganzen Tag an das verschwundene Mädchen gedacht hatte.
Auf Zehenspitzen versuchte ich, durch die sich zusammenballenden Schatten etwas zu erkennen. In der Senke zu meiner Linken bildete das Blätterdach eine Lücke, weil dort ein alter Baum umgestürzt war. Die Sonne beleuchtete diese Stelle im Unterholz wie eine Art Bühnenbild. Die Senke war rings um den umgestürzten Baum über und über mit blauen Glockenblumen bedeckt. Der blauviolette Hauch der Blumen war wie ein Spiegelbild des klaren Abendhimmels darüber. Die Lichtung wurde von silbrig weißen Birken gesäumt, die Rinde von klaren schwarzen Linien durchzogen und das frisch ausgetriebene Laub noch frühlingshaft apfelgrün. Im Sonnenlicht über den Blüten tanzten winzige Fliegen und Mücken in einem endlosen, goldgelb schimmernden Kreis.
Doch das war es nicht, was mir aufgefallen war. Die Hände in die Hüften gestemmt, suchte ich mit den Augen die gesamte Lichtung ab. Irgendetwas passte nicht ins Bild, aber was? Bäume, Blumen, Sonnenschein– eine perfekte Idylle. Wo war der Fehler?
Da. Es war etwas Weißes zwischen den Glockenblumen. Etwas Blasses hinter dem Baumstamm. Vorsichtig stieg ich die Böschung hinunter, näherte mich der verdächtigen Stelle und versuchte Genaueres zu erkennen. Die Stängel der Glockenblumen knirschten, und die glänzenden Blätter quietschten unter meinen Sohlen, während ich mich langsam vorwärtstastete. Jetzt war ich nahe genug und sah…
Eine Hand.
Es verschlug mir den Atem, als hätte mir jemand einen Stoß versetzt. Ich glaube, mir war auf Anhieb klar, was ich da sah. Dennoch ging ich näher heran, kroch um den alten Baumstamm herum und stieg über das zersplitterte, morsche Ende. So schockiert ich über diesen Fund auch war, erschien er mir dennoch seltsam folgerichtig. Es kam mir vor, als hätte ich mich unaufhaltsam auf diesen Moment zubewegt, seit ich von Jennys Verschwinden erfahren hatte. Als ich neben dem Baumstamm in die Hocke ging, schlug mein Herz schneller als zuvor beim Bezwingen des steilen Anstiegs.
Jenny lag im Schatten des umgestürzten Baumes, eigentlich sogar halb darunter. Eine Hand war sorgfältig auf ihrer schmalen Brust platziert, die Beine lagen ordentlich nebeneinander. Sie war mit Jeans, schwarzen Converse und einem ehemals rosafarbenen Fleecepullover bekleidet, der jetzt an den Ärmeln jedoch ganz grau war. Die Hand, die ich gesehen hatte, war ihre linke, die schräg nach außen gerichtet war. Zwischen den Blumen sah sie wie hingeworfen aus.
Aus der Nähe war erkennbar, dass die Blässe ihrer Haut ins Bläuliche ging und die Fingernägel das Grauviolett eines im Abheilen begriffenen blauen Flecks angenommen hatten. Ich wusste auch ohne sie zu berühren, dass ihr schon längst niemand mehr helfen konnte, aber trotzdem streckte ich meine Hand aus und strich mit der Rückseite eines Fingers über ihre Wange. Die Kälte ihres leblosen Körpers ließ mich erschauern. Ich zwang mich, ihr Gesicht zu betrachten, um die Wahrheit wirklich fassen zu können– würde ich das Gesehene doch niemals wieder vergessen können. Ihr Gesicht sah aschfahl aus und war eingerahmt von verfilzten, schmutzig blonden Haarsträhnen. Ihre Augen waren geschlossen; die Wimpern wirkten wie Fächer auf den farblosen Wangen. Ihre Lippen waren grau und blutleer. Der schlaffe Unterkiefer hing herunter, sodass ihr Mund leicht geöffnet war. Die Zähne standen etwas stärker hervor, als es zu ihren Lebzeiten der Fall gewesen war. Auf Gesicht und Hals trug sie unverkennbar Spuren von Gewalt: leichte blaue Flecken auf der Wange und Blutergüsse an den zarten Schlüsselbeinen. Auf
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