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Die Verraeterin

Die Verraeterin

Titel: Die Verraeterin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: J. T. Geissinger
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schloss die Königin gelassen, während sie die verblüfften Ratsmitglieder musterte, »können wir zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen. Um es einmal so auszudrücken.«
    Dieser Äußerung folgte – völlige Stille.
    Sie hatten sich in die Ostbibliothek zurückgezogen, einem kleineren, wenn auch nicht weniger imposanten Raum als der Saal, den sie gerade verlassen hatten. Überall standen wertvolle Antiquitäten und tickende Uhren. Auf dem Boden lagen weiche orientalische Teppiche, und an der Decke hing ein riesiger Kristallleuchter, an dem sich das Licht brach und über den schimmernden Mahagonitisch und die schweigende Gruppe aus neunzehn Leuten tanzte, die um ihn Platz genommen hatten.
    Sechzehn Ratsmitglieder, ein Alpha, eine Königin und sie. Die Verräterin.
    Die Verräterin, der die Königin gerade eine Rettungsleine zugeworfen hatte, so dünn diese auch sein mochte.
    Morgan versuchte ruhig zu bleiben, auch wenn sie kaum an sich halten konnte. Sie richtete den Blick auf die Hügel, die hinter den offen stehenden Fenstern lagen. Dort sah sie braunen Erdboden, durchzogen von smaragdgrünen Feldern, im Wind nickende Wildblumen und viele Meilen Wald, der so dicht war, dass nur wenige Sonnenstrahlen den stillen Boden durch das Dach aus Ästen zu erreichen vermochten. Ein hellgrünes Licht erfüllte den Wald, konnte aber nie ganz die kühle Dunkelheit durchbrechen.
    Der Fluss Avon durchschnitt das schwarze Zentrum und mäanderte über viele Kilometer hinweg durch die Landschaft. Türkisfarbene Libellen schossen über seine Oberfläche, duftende Piniennadeln und zarte Goldruten schwammen auf seinen kristallklaren Wellen, während unten über das Kiesbett Regenbogenforellen glitten. An einem klaren Tag wie diesem wusste Morgan, dass man problemlos bis auf den Grund sehen konnte, wo die schwankenden Moosranken zwischen glatten, dunklen Steinen herausragten und kleine Fische und Kaulquappen vorbeischossen. Als Kind hatte sie viele Stunden damit zugebracht, den New Forest zu erkunden. Tage, ja Monate ihres Lebens war sie dort gewesen. Die Erinnerung daran schmeckte bitter in ihrem Mund. Höchstwahrscheinlich würde sie den Wald nie wiedersehen können.
    »Ich möchte nicht despektierlich klingen, Hoheit«, sagte der Viscount, und richtete sich mit zusammengepressten Lippen an die Königin. »Aber ich verstehe nicht, wie Ihr Plan in die Tat umgesetzt werden soll.«
    Aus dem Augenwinkel sah Morgan, wie Leander den Kopf in die Richtung des Viscount wandte. Sie musste sein Gesicht nicht sehen, um zu wissen, welchen Ausdruck es hatte: warnend und offen feindselig. Sie beneidete den einsamen Falken, der weit oben in dem strahlend blauen Himmel hinter den Fenstern kreiste, während sie ihre zitternden Hände zu Fäusten in ihrem Schoß ballte und sich die größte Mühe gab, ruhig zu atmen.
    Ein. Aus. Ein … Aus.
    Der Viscount sprach in einem versöhnlicheren Tonfall weiter.
    »Es gibt absolut keine Garantie, dass diese Frau«, er wies mit einer verächtlichen Kopfbewegung auf Morgan, »die sich als höchste Gefahr für unsere Spezies erwiesen hat, indem sie uns alle verraten wollte, das tun wird, was Sie von ihr verlangen. Sie wird einfach verschwinden, abtauchen, nie mehr gesehen werden. Oder schlimmer noch: Sie wird sie aufsuchen und ihnen alles verraten.«
    Morgan wagte es, mit gesenktem Haupt einen Blick auf ihn zu werfen.
    Er saß mit aufrechtem Rücken und saurer Miene weiter oben am Tische und schüttelte den Kopf. Auf seinen Wangen waren zwei rote Flecken zu sehen, auf seiner Stirn schimmerte der Schweiß, und mit den Händen hielt er sich so krampfhaft an den Armlehnen seines Stuhls fest, dass die Fingerknöchel weiß hervorstachen. Beinahe tat er ihr leid.
    Beinahe.
    »Nein, das wird sie nicht.« Jenna drehte den Kopf und sah Morgan durch die Bibliothek hinweg mit ihren leuchtenden hellgrünen Augen an. Ihr Blick musterte sie kühl und durchdringend. »Oder, Morgan?«
    Schweigend versuchte Morgan, weder zu zittern noch zu blinzeln oder auf andere Weise zu zeigen, welche Angst sie hatte. Sie schüttelte stumm den Kopf.
    Jenna wandte sich wieder dem Viscount zu und bedachte ihn mit einem zufriedenen Lächeln.
    Einen langen, ewig langen Moment sprach niemand ein Wort. Dann war eine Stimme zu vernehmen, die von der Mitte der Versammelten kam und die kräftiger klang, als sie das vermutet hätte.
    »Ich halte es für einen guten Plan.«
    Nathaniel, das jüngste Mitglied des Rats, sah sich nervös um. Seine dunklen

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