Die verschollene Karawane
mystische Aorta der Pharaonenreiche. In wenigen Minuten würden sie in Kairo zwischenlanden. Niemand konnte sagen, ob dort unten, in diesem Moloch beidseitig des Nils und nahe der Pyramiden, zehn, 15 oder gar 20 Millionen Menschen lebten. Er liebte diese Stadt, die in Abgasen, Blechlawinen und Menschenmassen erstickte. Er mochte dieses Konglomerat aus jahrtausendealten Kunstschätzen, Slums und betonierten Neubausiedlungen.
In Kairo hatte er im fünften Semester seines Studiums ein halbjähriges Praktikum gemacht, um Arabisch zu lernen. Schon während der ersten Semester hatte er erkannt, dass viele offene Fragen der Entdeckungsgeschichte der Welt sich klären lassen würden, wenn es möglich wäre, sich arabischer Quellen zu bedienen. An europäischen Universitäten wurden die Kenntnisse der Araber oftmals ignoriert, die wissenschaftliche Aussagekraft angezweifelt. Dieser über Jahrhunderte währende Dünkel des Abendlandes hatte ein Weltbild kreiert, das vornehmlich von den moral-ethischen Dogmen der christlichen Kirchen und von einem manchmal geradezu absurden Irrglauben geprägt war. Der Fall des italienischen Astronomen Galileo Galilei war eines der berühmtesten Beispiele dafür, wie freigeistigen Denkern im Mittelalter von der Kirche Maulschellen verpasst worden waren. Unter Androhung der Todesstrafe war ihnen von der Inquisition verboten worden, Wahrheiten oder Vermutungen zu äußern, die den Lehren der Kirche nicht entsprachen. Beispiele dafür gab es viele. Während in Rom im 13. Jahrhundert noch immer gelehrt wurde, dass die Welt eine Scheibe sei, an deren Rand man herunterfallen und ins Verderbnis der Hölle stürzen würde, hatten arabische Forschungsreisende wie Ibn Batuta längst bestätigt, was die Griechen Posidonius wie auch Serapion von Antiochia schon vor Christi Geburt festgehalten hatten: dass nämlich die Erde eine Kugel ist. Und dieses Wissen war keineswegs als Geheimnis gehütet worden. Kreuzritter, unter ihnen viele Templer, hatten es mit nach Europa gebracht. Aber dumpfe Ergebenheit gegenüber dem Papst hatte die Ritter davon abgehalten, den Lehren der Kirchenoberen zu widersprechen.
Auch die für das Reisen über das Meer so hilfreichen Kamal und Issabah hatten Araber erfunden. Beides waren faktisch die Vorgänger des Quadranten, ohne den europäische Seefahrer die Welt nicht hätten erkunden können. Von christlichen Dogmen deformierte Wahrheiten, das hatte Peter im Studium schnell gelernt, waren über Jahrhunderte schier unüberwindbare Stolpersteine für europäische Gelehrte und Reisende geworden. So gesehen, hatte sich das Abendland lange Zeit in einem dunklen Loch der Unwissenheit befunden.
In den Archiven einst so berühmter Universitäten wie in Damaskus, Kairo, Bagdad und Konstantinopel schlummerte ein fantastisches Potenzial an Wissen, weshalb er in Kairo Arabisch hatte lernen wollen. Und in dieser Stadt hatte er damals Charles kennengelernt.
Gleich in der ersten Woche hatte er das Büro der Air France am Talaat-Harb-Platz wegen eines Ticketproblems aufsuchen müssen und war danach zu einem nahegelegenen Café in der Sharia-Qasr-el-Nil-Straße geschlendert. Dort hatte er auf der gegenüberliegenden Straßenseite ein Schaufenster entdeckt, über dem kaum lesbar L’Orientaliste geschrieben stand. Die Auslage mit den vielen Büchern hatte ihn neugierig gemacht. Und tatsächlich: Hinter der Fassade des ziemlich heruntergekommenen Hauses aus der Kolonialzeit hatte sich ein Garten Eden für Liebhaber seltener Bücher und antiker Landkarten verborgen. Über mehrere Etagen verteilt hatten sich dort Berge antiquarischer Raritäten getürmt: seltene Werke aus Afrika und dem gesamten Orient; wunderbare, handkolorierte Kupferstiche und ganze Schubladen voller Stahlstiche in bester Qualität. Der Bewohner dieser Schatzkiste war zu beneiden. Und genau das hatte Peter dem Eigentümer, einem ziemlich kauzigen alten Mann namens Charles Bahri, gesagt. Auf dieses erste Gespräch an jenem Tag waren schnell weitere gefolgt. Bald hatte er erfahren, wie der alte Mann zu diesen Schätzen gekommen war. Als Ägypten im Jahre 1922 unabhängig wurde, verließen Heerscharen der einstigen englischen und französischen Kolonialherren das Land. Viele von ihnen hatten wertvolle Kulturgüter zusammengetragen. Ihre Villen quollen über an Kunstschätzen und antiquarischen Büchern. Aber die junge ägyptische Regierung erlaubte den Besitzern nur jene Dinge mitzunehmen, die nach ihrem Dafürhalten nicht als
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