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Die verschollene Karawane

Titel: Die verschollene Karawane Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rolf Ackermann
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Angst aufgerissenen Augen und schlug ein Kreuz über der Stirn des Toten: »Nel nome del Padre e del Figlio e dello Spirito Santo, Amen!« Das Antlitz des Alten strahlte mit den geschlossenen Augen eine bizarre Friedfertigkeit aus. Selbst in den erschlafften Gesichtszügen war erkennbar, dass dieser Mensch zu Lebzeiten eine grenzenlose Güte in sich getragen hatte. Ja, Charles war wirklich ein guter, ein Gott ergebener, ehrfürchtiger Mensch mit sanftem Blick und einer noch sanfteren Seele gewesen. Nun waren seine Gesichtzüge verzerrt. Er hatte sich offensichtlich gewehrt, hatte um sein Leben gekämpft. Die Kratzer in den Sandsteinfliesen auf dem Boden und die abgebrochenen Fingernägel des Toten ließen erahnen, dass der Todeskampf lange gewährt hatte. Der Mörder musste kräftig gewesen sein, ein starker, hasserfüllter oder auch gieriger Mensch, der mithilfe einer Hanfkordel sein Opfer bis zum qualvollen Tod stranguliert hatte.
    Entsetzt starrte Pater Giovanni auf das Seil. Erst in diesem Moment realisierte er das Unglaubliche. Irritiert schluckte er und blickte zögernd an seinem eigenen Körper hinab. Ein helles, kunstvoll verknotetes Hanfseil hielt auch seine geknüpfte Kutte in Hüfthöhe zusammen – ganz in der Tradition der Franziskaner. Um Gottes willen! Charles war mit einem Seil erwürgt worden, das dem seinen und dem seiner Mitbrüder hier im Kloster glich.
    Plötzlich schreckte er auf. Die Glocke des Kirchturms rief zum Nachmittagsgebet und zur Meditation: Vesperzeit! In einer Dreiviertelstunde würde das Nachmittagsgebet beendet sein und das Abendessen beginnen. Aus der Kirche klang die erste Strophe des Sonnengesangs des heiligen Franziskus: »Höchster, allmächtiger, guter Herr, Dein sind der Lobpreis, die Herrlichkeit und Ehre und jeglicher Segen. Dir allein, Höchster, gebühren sie, und kein Mensch ist würdig, Dich zu nennen.«
    Beängstigende Gedanken schossen Pater Giovanni durch den Kopf. Sein Blick haftete an dem Hanfseil am Hals des Opfers. Jeder seiner fünf Mitbrüder trug ein solches Seil. Was wäre, wenn nachher, beim Abendessen, einer der Mönche fehlen würde? Was, wenn der Mörder aus ihren eigenen Reihen käme? Oder war es einer der Besucher gewesen? Als wolle er sich gegen solchermaßen unfassbare Gedanken wehren, schüttelte er seinen Kopf. Doch woher stammte dieses Seil?
    Einige der Fischer drüben in dem kleinen Ort Burano auf der Nachbarinsel benutzten ebenfalls solche Hanfseile. Zumindest sahen sie so ähnlich aus, oder nicht? Schockiert von dem sich ihm aufdrängenden Verdacht sprang Pater Giovanni so hastig auf, dass er seine Brille verlor. Laut klirrend zerbrachen die Gläser auf dem Steinboden. Seine Hände tasteten nach ihr.
    Schließlich konnte er die Hornfassung zwischen den seitlich ausgestreckten Beinen der Leiche erfühlen. Beim Einsammeln der Scherben schnitt er sich. Warm und klebrig fühlte er sein eigenes Blut über die Hand rinnen. Schnell sprang er auf, raffte seine Kutte hoch und hetzte durch die Kapelle der Jungfrau Maria zu seinen Mitbrüdern.
    »Bruder Giovanni«, kam ihm kurz vor dem Speisesaal Pater Ernesto, der Älteste der Glaubensgemeinschaft, aufgeregt und mit fragendem Blick entgegengehinkt, »mein Sohn, weißt du vielleicht, wo der altehrwürdige Bruder Elias steckt? Er hätte eigentlich mit dem letzten Boot aus Burano kommen sollen. Ist er aber nicht. Das ist sehr ungewöhnlich! Sein Platz beim Nachmittagsgebet ist leer geblieben. Wir machen uns große Sorgen um ihn. Der Herr verwirrt seinen in die Jahre gekommenen Geist hin und wieder so sehr, dass er nicht immer genau weiß, was er tut. Gottes Fügungen sind unergründlich.«
    Fassungslos starrte Pater Giovanni seinen Mitbruder an. Der fürchterlichste aller Verdachtsmomente schien sich zu bestätigen. Der greisenhafte und manchmal völlig abwesend wirkende Bruder Elias! Nein, unmöglich! Pater Giovanni versuchte, diesen Gedanken zu verdrängen. Zunehmend wurde ihm die Tragweite dessen bewusst, was hier in den heiligen Gemäuern geschehen war. Was sollte er tun – den Prior informieren oder seine Mitbrüder zusammenrufen? Nur den Namen von Charles zu erwähnen, war eine höchst prekäre Angelegenheit. Man musste genau überlegen, mit wem man über ihn sprach. Und nun auch noch dieser Mord. Was in Kürze passieren würde, war nicht auszudenken. Die Carabinieri würden kommen, Staatsanwälte und wahrscheinlich Heerscharen von Journalisten würden Fragen stellen. Der Orden würde weltweit in den

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