Die verschollene Karawane
vor drei Tagen das Fax seines Freundes mit der eigentümlichen Landkarte und diesen wundersamen Textseiten erhalten hatte, raubten ihm aufwühlende Gedanken den Schlaf. Nächtelang hatte er Bücher gewälzt und Unterlagen aus seiner Studienzeit durchgestöbert. Sonderlich erfolgreich war er nicht gewesen. Was da in Latein geschrieben stand, las sich wie ein Märchen aus Tausendundeiner Nacht. Es war ein Sammelsurium fantastischer, mystischer und im wahrsten Sinne des Wortes unglaublicher Beschreibungen aus einer anderen Welt, ergänzt durch Skizzen von fabelhaften Lebewesen: Menschen, die einen Hundskopf hatten, Raubtiere mit Menschenköpfen, Giganten und Zyklopen. Und doch gab es darin auch Abschnitte, die von einem enormen geografischen wie auch historischen Wissen des unbekannten Verfassers zeugten. Wer immer auch dieses Pamphlet verfasst hatte, er war sicherlich kein orientalischer Geschichtenerzähler gewesen. Zudem gab es auffallend viele religiöse Bezüge. Peter war sich nicht sicher, wie der Text letztendlich einzustufen war: Waren es Fantasien, Hirngespinste und Wahnvorstellungen – willkürlich ergänzt durch vermeintliche Fakten? Auch aus welcher Zeit die Zeilen stammten, war nicht eindeutig zu belegen. Manche Textpassagen deuteten darauf hin, dass sie im zwölften Jahrhundert entstanden waren. Und: Wer war der Verfasser dieses in Briefform geschriebenen Werkes, wer der Empfänger gewesen? Um welches fantastische Land ging es da eigentlich?
Peter fand keine Antworten auf seine Fragen. Müde fuhr er sich durch seinen schwarzen Haarschopf und massierte kurz seinen Nacken. Warum hatte der alte Mann ihm nur Auszüge aus diesem Brief zukommen lassen? Ganz offensichtlich waren einzelne Passagen absichtlich weggelassen, andere sogar geschwärzt worden. Ließen die fehlenden Zeilen Rückschlüsse auf den Verfasser und den Empfänger zu? Er griff in seinen Rucksack, zog die Faxseiten hervor und überflog den geheimnisvollen Brief nochmals. Leise las er einzelne Auszüge vor sich hin:
»Man erzählte Unserer Majestät, dass Du Unsere Exzellenz in Liebe verehrst und die Kunde von Unserer Größe zu Dir gedrungen ist. Während Wir wissen, dass Wir Mensch sind, halten Dich die Graeculi für Gott. Wir hingegen wissen, dass Du sterblich bist und der menschlichen Hinfälligkeit unterliegst…
Unser Land erstreckt sich vom jenseitigen Indien, in dem der Körper des heiligen Apostels Thomas ruht, durch die Wüste und weiter bis zum Aufgang der Sonne und kehrt zurück durch den Untergang zum verlassenen Babylon neben dem Turm zu Babel…
An Gold und Silber und Edelsteinen, Elefanten, Dromedaren, Kamelen und Hunden haben Unsere Hoheit Überfluss… unter dem Übrigen, was sich wunderbarerweise in Unserem Land befindet, ist ein sandiges Meer ohne Wasser. Der Sand bewegt sich und schwillt zu Wellen an wie das Meer und ist niemals still. Drei Tagesreisen entfernt von diesem Meer liegen Berge, von denen ein Fluss von Edelsteinen herabfließt in derselben Weise ohne Wasser, und er fließt durch Unser Land bis zum sandigen Meer…
Jeden Monat bedienen Uns sieben Könige, ein jeder nach seiner Ordnung, 72 Herzöge, 365 Grafen an Unserem Tisch, ausgenommen jene, die zu verschiedenen Aufgaben an Unseren Hof abgeordnet sind. An Unserem Tisch speisen täglich nahe bei Uns auf der rechten Seite zwölf Erzbischöfe, auf der linken Seite 20 Bischöfe…
Wenn wir gegen Unsere Feinde in den Krieg ziehen, lassen Wir 13 große und sehr hohe Kreuze aus Gold und mit wertvollen Steinen in einzelnen Wagen anstelle von Fahnen vor Uns hertragen, und einem jeden von ihnen folgen 10 000 Soldaten und 100 000 bewaffnete Fußsoldaten, ausgenommen diejenigen, die dem Gepäck, den Wagen und dem Proviant des Heeres zugeordnet sind.
Wir haben gelobt, das Grab des Herrn zu besuchen mit einem mächtigen Heer, wie es dem Ruhm Unserer Majestät entspricht, die Feinde des Kreuzes Christi zu erniedrigen und zu bekriegen und seinen gepriesenen Namen zu verherrlichen.
Gegeben an den XV. Kal. Aprilis im Jahre LI Unserer Geburt. Zur Bestätigung: Alles, was oben gesagt worden ist, gleichwie unglaublich, dass dies wahr ist, hat ein Kardinal namens Stephanus mit Treu und Glauben versichert und allen offen verkündet.«
Peter atmete tief durch. Er wusste einfach nichts mit diesem Dokument anzufangen. Fraglos war darin die Rede von einem unvorstellbar mächtigen Christenreich, das sich verpflichtet gefühlt hatte, gegen die Feinde des Kreuzes Christi zu
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