Die verschollene Symphonie
die Augen seines anderen Ichs, das mit Lederriemen fest an das knorrige Holz gebunden war, während die restlichen Bilder durch den Spiegel traten und um ihn herum Gestalt annahmen.
Die zwei Dutzend Frauen, die auf dem kleinen Felsvorsprung wie verrückt umhertanzten, waren bis auf die Weinblätter in ihren Haaren und die auf ihre Körper geschmierten Farbstreifen nackt. Eine von ihnen, die er für die Oberpriesterin hielt – oder Hohepriesterin oder wie immer die Heiden die Anführerin eines solchen Rituals nennen mochten –, trug einen Kopfschmuck und schüttelte immer wieder etwas, das sie in ihrer Faust hielt, in Richtung des Mondes.
Die Bacchantinnen fuhren mit ihrem Ritual fort, tanzten im Feuerschein und sangen lauthals in den Himmel, als könnten oder wollten sie den älteren Mann, der in ihrer Mitte aufgetaucht war, nicht sehen. Sie wirbelten in wilder Raserei umher und drängten sich zu Gruppen schwitzender Gestalten zusammen. Brüste wurden gestreichelt und Rücken gekratzt, voller Vergnügen und Schmerz zugleich. Körper rieben in einer Extase der Leidenschaft aneinander, in Anbetung eines Gottes jenes Pantheons, auf dessen Spuren der alte Mann durch die Ewigkeit gereist war.
Der junge Mann, der an den Baum in der Mitte der Insel gebunden war, blinzelte sein älteres Ich erwartungsvoll an. Er räusperte sich mit trockener Kehle und warf den wild herumtanzenden Frauen einen zögernden Blick zu. »Können sie dich nicht sehen?«
Der alte Mann lehnte sich gegen den Baum und antwortete im Plauderton: »Scheint so. Dies ist deine Echtzeit, nicht die meine.«
Der jüngere Mann starrte ihn wütend an und versuchte auszuspucken. Da es ihm jedoch an Speichel mangelte, warf er seinem Gegenüber nur einen finsteren Blick zu.
»Und?«, krächzte er. »Willst du nicht irgendwas unternehmen?«
»Ich weiß nicht«, erwiderte der alte Mann. »Ich erinnere mich, schon einmal hier gewesen zu sein, aber mir ist nicht ganz dasselbe widerfahren wie dir.«
»Das klingt… ziemlich überheblich…«
»Daran ist der Umhang Schuld. Was ist hier passiert?«
»Die Maschine«, kam nach einigen Sekunden die Antwort, »die Anabasis-Maschine. Sie haben sie mir abgenommen… Haben sie zerstört.«
»Hmm«, brummte der alte Mann. »Lass sie den Heiden. Auf die gleiche Weise habe ich einmal eine silberne Taschenuhr verloren.«
Die Augen des jüngeren Mannes weiteten sich. »Etwa die Uhr, die du Michael Langbein auf der Reise nach Lepinski Vir gegeben hast?«, rief er aus. »Ich habe diese Uhr geliebt. Achtundzwanzigstes Jahrhundert, habe ich Recht?«
»Neunundzwanzigstes«, sagte der alte Mann zerstreut, als eine besonders attraktive Bacchantin vorbeigewirbelt kam. »Keine Sorge – sie wird wieder auftauchen.«
»Vielleicht für dich«, fauchte der Mann am Baum, »… für mich nicht mehr.«
»Warum nicht? Es ist erst… was war es gleich? Das zweite Jahrhundert vor dem Nullpunkt? Meine Anabasis-Maschine sollte bei einem Sprung für uns beide ausreichen. Ich meine, du bist ein wenig mitgenommen, aber sie haben dich noch nicht umgebracht. Also lass den Kopf nicht hängen, ja?«
Als Erwiderung blickte der jüngere Mann zu seiner Hüfte hinunter. Das Blut, das seinen Unterleib bedeckte, war bereits geronnen und hatte eine schwarze Kruste gebildet. An der Stelle, wo seine Geschlechtsteile hätten sein sollen, befand sich nur eine gähnende, ausgefranste Wunde. Die Hoden des alten Mannes krampften sich mitfühlend zusammen. Er ahnte nun, was die Priesterin so triumphierend in Richtung Mond schüttelte.
Er schnaubte frustriert und resigniert zugleich, trat hinter den Baum und legte einen Arm um den Hals seines jüngeren Ichs.
»Übrigens«, flüsterte er ihm ins Ohr, »was ich dir sagen wollte – du brauchst wirklich dringend Urlaub.«
»Da hast du verdammt noch mal Recht«, krächzte der Gefesselte, bevor der alte Mann ihm das Genick brach.
Ohne einen weiteren Blick auf die leblose Gestalt an dem Baum zu werfen oder auf die überraschten Bacchantinnen, die soeben bemerkten, dass ihrem geplanten Opfer etwas noch Schlimmeres widerfahren war als ein abgeschnittener Penis, nahm der alte Mann erneut das Gerät aus seiner Tasche, drehte an den Rädchen auf seiner Oberfläche und machte sich auf den Weg in die Zukunft.
Auf einer grauen Düne an einem der südlichsten Strände der afrikanischen Küste trockneten ein Dutzend Fußabdrücke und verhärteten sich allmählich. In den ersten tausend Jahren nahm niemand
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