Die verschollene Symphonie
davon Notiz, auch nicht in den nächsten und den darauf folgenden tausend. Nach etwa zwanzigtausend Jahren schnüffelte ein kleines, nagetierähnliches Wesen daran und überließ sie weiteren hunderttausend Jahren der Einsamkeit, bevor jemand sie entdeckte.
Der kleine, dunkelhaarige Junge mit den kalten Augen trat auf den Sandstein und setzte seine nackten Füße in zwei der Abdrücke. Seine Fußsohlen waren etwa sieben Zentimeter kürzer als die Vertiefungen.
»Hmm«, brummte er. »Man hätte meinen sollen, dass ich in hundertsiebzehntausend Jahren ein wenig hätte wachsen müssen.«
Er lächelte innerlich und warf einen Blick auf die silberne Taschenuhr, die sich in der linken Tasche seines weißen Umhangs befand. Dann nahm er eine Anabasis-Maschine aus der rechten Tasche, drehte an den Rädchen und verschwand.
TEIL EINS
ABWESENHEITEN
KAPITEL EINS
Die Walküre
Die Welt ist voller Wunder.
Ein Satz, der in seiner Einfachheit ebenso tiefsinnig wie wahr ist, auch wenn die meisten Menschen nicht daran glauben. Wie bedauerlich, dachte die Ärztin, denn Wunder scheinen mit beunruhigender Häufigkeit zu geschehen.
Dessen ungeachtet war ein Großteil der Menschheit immer noch der Meinung, dass sich alle wirklichen Wunder bereits zu einer Zeit ereignet hatten, als die Jahreszahlen auf ihren Kalendern noch nicht in dreistellige Bereiche vorgerückt waren. In Wahrheit geschahen die ganze Zeit über Wunder, es bemerkte nur keiner.
Zugegebenermaßen hatte auch die Ärztin einmal zur unaufgeklärten Masse gehört, vollkommen gleichgültig gegenüber der Tatsache, dass sich um sie herum Ereignisse von biblischen Ausmaßen abspielen mochten. Bis sie eines Tages selbst in den Einflussbereich eines solchen Phänomens geraten war. Wie das Schicksal so spielte, handelte es sich dabei nicht um ein Ereignis, das man leicht als Folge religiösen Wahns hätte abtun können, wie etwa den Stern von Bethlehem. Stattdessen war dieses Vorkommnis überhaupt nur im weitesten Sinne zur Kategorie Wunder zu zählen: eine Heilung durch Handauflegen, die als Zaubertrick getarnt war.
Danach war ihre Bereitschaft, an Wunder zu glauben, erheblich gestiegen. Seither schenkte sie ihrer Umwelt viel mehr Aufmerksamkeit und stellte fest, dass ihre Bemühungen nicht vergeblich waren: Wunder gab es überall. Leider hielten die wenigen Menschen, denen sie diese Erkenntnis mitteilte, ihre Definition von ›Wunder‹ für banal und führten ihren Enthusiasmus auf jenes bemerkenswerte Ereignis zurück, dessen Zeugin sie geworden war.
Die Ärztin konnte ihnen das nicht einmal verübeln. Schließlich ließen sich die ›Wunder‹, die sie überall wahrnahm, auch schlichtweg auf eine erhöhte Lebensfreude zurückführen. Allerdings behauptete sie ihrerseits, dass ihre Mitmenschen sie nur deshalb nicht verstanden, weil sie in einer übermäßig abgestumpften Gesellschaft lebten, die sich mehr für das Wenden von Dung interessierte als für die Blumen, die darunter sprossen.
Abgesehen von jener einen außergewöhnlichen Erfahrung hatte sie bisher kein Wunder von wahrhaft biblischem Ausmaß erlebt, nichts Klassisches, wie etwa das Teilen des Wassers oder die Verwandlung von Wasser in Wein – bis das Huhn auftauchte, jedenfalls.
Vor einigen Monaten, als sie zur Stellvertretenden Medizinischen Leiterin der Eidolon-Stiftung ernannt worden war, hatte sie ihren Wohnsitz von Wien nach Linz verlegt und sich auf eine durchaus interessante, gut bezahlte, sonst jedoch wenig bemerkenswerte Arbeit eingestellt.
Die Stiftung war in einer mittelalterlichen Burg untergebracht, die sich etwas außerhalb der Stadt befand. Diese ungewöhnliche Gegend stellte jedoch den einzigen Unterschied zu anderen Verwaltungsposten auf mittlerer Ebene dar, und sie war damit zufrieden. Wenn man einmal von den möglichen Wundern absah, die man bei dieser Arbeit erleben konnte, brachte die ständige Beschäftigung mit Menschen, die sich mit letzter Kraft an den abfahrenden Zug der geistigen Gesundheit klammerten, auch ein gewisses Maß an Belastung mit sich. Die potenzielle Langeweile, die sich mit einer Arbeit in den weniger hektischen Bereichen dieses Bahnhofs verband, war ein Preis, den sie für ihren eigenen Erste-Klasse-Fahrschein gern bezahlte.
Während der ersten Woche in der Einrichtung wurden ihre Erwartungen jedoch völlig auf den Kopf gestellt, als ein Huhn forsch durch die Tür ihres Büros stolzierte und mit Schwung auf ihrem Schreibtisch
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