Die Verschwörer von Kalare
Prolog
Aus den Schriften von Gaius Quartus,
Erster Fürst von Alera.
Tavi faltete die Hände und starrte auf das Ludus-Brett. In elf Reihen wechselten sich schwarze und weiße Quadrate ab, auf denen Bleifiguren, ebenfalls schwarz oder weiß bemalt, in geschlossenen Linien standen. Ein zweites Brett von fünf mal fünf Vierecken schwebte an einem Metallstab in der Mitte über dem ersten und war nur von einigen wenigen Figuren besetzt. Die Geschlagenen standen auf dem Tisch neben dem Spielbrett.
Das Spiel war längst in vollem Gange, und bald würden unausweichlich Tausch und Opferung der Figuren beginnen, was dann ins Endspiel überleitete. So war das Wesen des Ludus. Tavis dunkle Legionen hatten schwerere Verluste hinnehmen müssen als die weißen des Gegners, aber immerhin hatte er sich dadurch in eine bessere Stellung gebracht. Solange er die Kontrolle über das Spiel behielt - und vorausgesetzt, sein Gegner hatte keine hinterhältige Falle aufgebaut, die Tavi entgangen war -, standen seine Aussichten auf den Sieg gut.
Er nahm einen seiner Fürsten und schob ihn über das obere Brett, das den Luftraum über dem eigentlichen Schlachtfeld verkörperte, um so die belagerten Positionen des weißen Feindes zusätzlich unter Druck zu setzen.
Sein Gegner gab einen tiefen, entspannten Laut von sich, der stark an das Knurren eines großen und verschlafenen Raubtiers erinnerte. Tavi wusste, dieser Laut bedeutete ungefähr so viel wie das amüsierte Lachen eines Menschen - doch er vergaß keine Sekunde lang, dass sein Gegner nicht der menschlichen Gattung angehörte.
Der Cane war ein riesiges Wesen, mehr als neun Fuß groß, wenn er sich aufrichtete. Sein dichtes, dunkles Fell überzog den gesamten Körper, bis auf die Pfotenhände und die Stellen, an denen sich Narben auf der Haut unter dem Pelz befanden. Der Kopf ähnelte dem eines gigantischen Wolfes, war nur ein wenig gedrungener, und die Schnauze endete in einer breiten schwarzen Nase. Aus dem Kiefer ragten scharfe weiße Zähne hervor. Spitze Ohren standen aufrecht und neigten sich leicht nach vorn, dem Ludus-Brett zu. Der Cane wedelte beim Nachdenken unablässig mit dem Schwanz und kniff die rotgoldenen Augen zusammen. Er verströmte einen einzigartigen Geruch, moschusartig, muffig und düster, und noch immer roch man Spuren von Metall und Rost, obwohl seine Waffen und die Rüstung bereits vor zwei Jahren weggesperrt worden waren.
Varg hockte auf seinen Hinterläufen, auf der anderen Seite des Bretts, Tavi gegenüber. Stühle verschmähte er. Trotzdem befanden sich die Augen des Cane einen Fuß höher als die des jungen Mannes. Sie saßen zusammen in einem einfach ausgestatteten Zimmer des Grauen Turms, dem Gefängnis von Alera Imperia, in das niemand eindringen und aus dem niemand entfliehen konnte.
Tavi gestattete sich ein schwaches Lächeln. In das fast niemand eindringen und aus dem fast niemand entfliehen konnte.
Wie immer erfüllte Tavi der Gedanke an die Ereignisse beim
Winterend-Fest vor zwei Jahren mit Stolz, Demut und Traurigkeit. Selbst jetzt noch suchten ihn manchmal Träume mit brüllenden Ungeheuern und Strömen von Blut im Schlaf heim.
Er verscheuchte diese schmerzlichen Erinnerungen. »Was ist so lustig?«, fragte er den Cane.
»Du«, erwiderte Varg, ohne vom Ludus-Brett aufzublicken. Er sprach schleppend und mit tiefer Stimme, als würde er die Worte zuerst im Mund durchkauen. »Angriffslustig.«
»So gewinnt man schließlich«, sagte Tavi.
Varg streckte die schwere Pfotenhand aus und schob einen weißen Hohen Fürsten mit langer, scharfer Kralle vor. Der Zug war als Antwort auf Tavis letzten oben auf dem Himmelsbrett gedacht. »Zum Sieg gehört mehr als nur Wildheit.«
Tavi schob einen Legionare vor; bald konnte er mit dem großen Angriff beginnen. »Inwiefern?«
»Weil der Sieg mit Disziplin geschmiedet wird. Wildes Anstürmen ist sinnlos, solange es nicht an der richtigen Stelle erfolgt …« Varg fegte mit einer Wehrhöferfigur über das Himmelsbrett und schlug den Legionare . Dann lehnte er sich zurück und faltete die Pfotenhände. »… und zum richtigen Zeitpunkt.«
Tavi betrachtete das Spielbrett stirnrunzelnd. Er hatte den Zug des Cane durchaus in Betracht gezogen, jedoch als zu unorthodox und unklug abgetan und sich deshalb keine weiteren Gedanken darüber gemacht. Aber durch die subtilen Manöver des Spiels war die Balance der Macht auf dem Ludus-Brett plötzlich ins Wanken geraten.
Tavi überlegte, welche
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