Die Verschwoerung von Toledo
Weiß. Schwarz für die Buchstaben, Weiß für den Sinn dazwischen.«
»Es gibt einen Sinn zwischen Buchstaben?«
»Ja glaubst du denn, mein Sohn, unsere jüdischen Schriften sind bloß aus Willkür nur in Konsonanten geschrieben? Jeder hat selbst die geheimen Vokale zu finden, die den Sinn erschließen. Ein Sinn übrigens, der nur ihm allein gehört. Denn das lebendige Wort darf nicht zur toten Lehre erstarren.«
»Ich bin mir unsicher, ob ich deine Worte verstehe…«
»Worte sind wie das geheime Wesen des Herrn, unseres Gottes. Wir sehen beides als geoffenbarte Kraft des Wirklichen. Beides gilt es zu entschlüsseln, denn die Bedeutungen liegen ebenso wenig auf der Hand wie das große Gefüge der Welt.«
»Ich weiß immerhin, dass ich in der Kabbala-Schule bin, um den Weg zu diesen Bedeutungen zu lernen.«
»Richtig. In unseren grundlegenden Büchern Sefer ha-Sohar und Sefer Jetzirah, die du lesen musst und lesen kannst, weil du Aramäisch beherrschst, wird die Einweihung vorgenommen. Dadurch haben wir die Möglichkeit, die Geheimnisse der Thora, unseres Gesetzes, zu verstehen. Die Bücher geben uns den Schlüssel in die Hand, mit dem wir die Bindeglieder zwischen Mensch und Universum, zwischen Geschöpf und Schöpfer, erkennen können. Diese Bindeglieder fassen wir als Kraft auf, durch die der Mensch auch die Schöpfung formen kann. Aber er muss imstande sein, sich diese Kräfte dienstbar zu machen.«
»Er muss sie anrufen können?«, fragte Henri verblüfft.
»Dies ist die zweite Lektion. Du hast sie verstanden.«
»Siehst du diese zehn Zahlen? Es sind die Grundzahlen. Wir nennen sie Sephirot. Es sind gleichzeitig die Zeichen für das innergöttliche Schöpfungswirken. Man könnte auch sagen, die zehn Grundzahlen bilden die Emanationen, die Ausflüsse Gottes, des Herrn.«
»Ich verstehe.«
»Nein. Du verstehst gar nichts. Wenn du es verstehen würdest, wärst du ein Eingeweihter. Aber du bist nur ein Scholar, wenn auch ein kluger. Eines Tages wirst du es zweifellos verstehen. Jetzt kannst du nur eines tun: es dir merken. Du musst es einfach auswendig lernen. Vergiss es nicht.«
»Ihr Kabbalisten seid streng, Theophil.«
»Auch das, was es zu begreifen gilt, ist streng, Henri de Roslin. Wie willst du es sonst schaffen, alles zu verstehen, wenn nicht mit der äußersten Konzentration? Es ist nicht leicht, ich weiß das. Aber du suchst doch nach dem Sinn der Dinge und Namen, um sie zu beherrschen?«
»Ich habe Waffen gebraucht, die töteten, jetzt will ich auch die Wörter besitzen. Ich brauche ihre Magie. Nicht, um zu töten, sondern um meine Feinde abzuwehren.«
»Du willst unantastbar werden, ich weiß. Dann verstehe – auch die Schöpfung ist ein Akt der Magie, der durch die Verwendung der Buchstaben unseres Alphabets ausgedrückt wird.«
»Des hebräischen Alphabets, meinst du?«
»Natürlich. Die Konsonanten des hebräischen Alphabets stellen die Elemente der Schöpfung dar.«
Henri behauptete nicht, diese Wahrheit zu begreifen. Er nickte nur.
»Allerdings musst du einsehen, dass diese Buchstaben mehr sind als bloße Symbole. Wenn sie nicht mehr wären, hätte unsere Lehre keine Wirkung, sie wäre bloßer Mummenschanz. Was also, denkst du, sind die Buchstaben?«
»Sie sind…«
»Ja?«
»… lebendige Kräfte des Universums…«
Theophil von Speyer blickte ihn ausdruckslos an. Aber Henri wusste, dass dies schon beinahe die höchste Anerkennung darstellte. Der Kabbalist sagte: »Durch diese lebendigen Kräfte, ihre Namen und die Rituale, durch die wir mit ihnen umgehen, werden alle Mächte geweckt und wieder erweckt.«
»Aber was bedeutet das alles für den Kabbalisten? Ist er eine Art Zauberer, ein Magier – ein Taschenspieler?«
»So könnte es einem unwissenden, fremden Goj wie dir scheinen, mein Sohn. Ferrand scheint ja ähnlich zu denken. Tatsächlich hat die Inquisition in Iberien solche Vorwürfe erhoben. Deshalb müssen wir sehr vorsichtig sein. Hüte dich also vor vorschnellen Schlüssen! Du weißt noch gar nichts! Eines Tages in ferner Zukunft wirst du sicher begreifen, denn ich vertraue dir.«
»Was also tut der Kabbalist?«
»Er tut das Folgende. Durch seine rituellen Handlungen, an denen du bald selbst teilnehmen wirst, weckt er die innere Kraft in den Dingen und in den Symbolen. Dies merke dir, daran musst du als Erstes glauben, sonst können wir mit den Lektionen nicht fortfahren. Du musst daran glauben, dass alles Gott ist. Kannst du das, aufgrund deiner
Weitere Kostenlose Bücher