Der Bund der Drachenlanze - 10 Ellen Porath
Kapitel 1
Die Eule und Kitiara
Zweige und Dornen verfingen sich in Kitiaras weiter Bluse
und zerkratzten das Leder ihrer Reithose. Flüche gellten
durch die Luft. Ihr war sehr wohl bewußt, daß draußen in
der Dunkelheit schattenlose Gestalten lauerten, doch bisher
hatten sie nichts weiter getan, als jede ihrer Bewegungen zu
verfolgen. Ihr Packsack, den sie sich auf den Rücken gehängt hatte, behinderte sie beim Laufen, doch sie hackte
furchtlos mit Schwert und Dolch auf die klammernden
Tentakel der Pflanzen ein.
Die Dunkelheit hatte sich etwas zurückgezogen, als wäre
Solinari hinter den Wolken aufgegangen. Schwach wie er
war, schenkte der Mond Kitiara wenigstens genug Licht,
um in jede Richtung ein paar Fuß weit sehen zu können.
Vor und hinter ihr verrenkten sich die Bäume hexenhaft.
Seufzend wie der Wind hörte man fremde Atemzüge.
Caven Mackid hätte sie für verrückt erklärt, weil sie allein weiterzog. Tanis hätte ihr geraten, den Morgen abzuwarten. Wod hätte angesichts ihrer augenblicklichen, mißlichen Lage höhnisch gegrinst.
Aber sie waren alle tot. Und Kitiara zog bei Nacht durch
den Düsterwald – auf der Suche nach einem Weg nach
draußen.
Regungslos starrte sie den zerklüfteten Grat zur Linken
an, dann nach rechts, wo sie ein Tal erahnte. Es war zu
dunkel, um Genaueres zu erkennen, doch sie drang weiter
vor, folgte etwas, das wie ein Pfad aussah, auch wenn der
Weg, der sie und die anderen drei in den Düsterwald geführt hatte, verschwunden war. Wieder war sie von Zweigen und Ranken umgeben. Reflexhaft strich sich Kitiara
eine Ranke aus dem Gesicht.
Ein neuer, plötzlicher Schwindel verursachte einen
Schweißausbruch. »Bei den Göttern«, murmelte sie. »Was
habe ich mir bloß geholt? Oder bin ich etwa verhext?« Sie
wartete kurz ab, bis die momentane Schwäche vorüber
war. Kitiaras Haut war von Kratzern übersät; ihr Rücken
juckte vor Schweiß und Dreck. Die Dornen hatten ausgefranste Löcher in ihre Bluse gerissen. Aus einem langen
Kratzer auf der rechten Wange, der sich bis ans Auge zog,
sickerte Blut.
Plötzlich stand etwas vor ihr auf dem Pfad. Sie stieß es
mit dem Schwert an. Es wirkte wie ein gewaltiger Haufen
Stolperkraut. Bestimmt würde er bei einem kräftigen Stoß
in das Tal da unten kullern. Sie stieß mit einer Hand gegen
den verschlungenen Ball, doch als dieser erstaunlich verwurzelt erschien, lehnte sie sich mit der Schulter dagegen
und schob. Augenblicklich erkannte sie ihren Fehler. Hunderte von winzigen Häkchen schossen in das Vorderteil
ihres Hemds. Fangarme peitschten um ihre Knöchel und
Handgelenke. Ein zögernder, zitternder Arm kitzelte ihre
Halsgrube. Sie versuchte, sich von den Dornen loszureißen.
Der Arm an ihrem Hals fuhr trotzdem an ihrer Halsschlagader entlang.
Fluchend hackte Kitiara mit dem Schwert auf das Gestrüpp ein – war es dichter als zuvor? –, bis das Gewächs
von ihr abließ. »Aha«, murmelte sie. »Also kann man auch
dich bekämpfen.« Sie ging erneut auf die Dornenranken zu
und lächelte, als sie sah, daß diese sich vor ihr zur Seite bogen.
Dann machte Kitiara noch einen Schritt, und der Dornbusch, der Pfad, der Grat und das Tal – alles war verschwunden. Zugleich wurde die Nacht wieder dunkler, als
wäre Solinari eine Kerze gewesen, die man plötzlich ausgeblasen hatte. Kitiara griff mit links nach vorn und zog
vorsichtig den Dolch vor und zurück. Die Spitze traf auf
etwas Hartes, Großes – zu weich für Fels. Das Schwert
kampfbereit, steckte Kitiara den Dolch ein und griff wieder
mit bloßer Hand nach vorn. Ihre Finger berührten etwas
Weiches und Hartes, fuhren eine Wölbung nach, fanden
einen welligen Rand und folgten ihm – es war eindeutig ein
Stiefel.
Es war die Steinstatue, zu der Caven und Malefiz geworden waren.
Kitiara stand wieder auf der Lichtung bei ihren Gefährten.
Unbeirrt brach Kitiara wieder nach Haven auf, diesmal
auf einem anderen Pfad. Eine Stunde später traf die Kämpferin auf dasselbe undurchdringliche Gestrüpp und landete
wieder auf der Lichtung.
Da setzte sich Kitiara zornig an einen Baum und legte das
Schwert über ihre Knie, um auf die Dämmerung zu warten.
Obwohl sie sich geschworen hatte, wach zu bleiben, war sie
im Handumdrehen fest eingeschlafen.
Vielleicht war es ein sechster Sinn, der sie warnte. Vielleicht erwachte sie durch die starken Gefühle aus ihrem
Traum, in dem ihre tote Mutter mitten auf einer Brücke
stand und nach ihr rief. Auf jeden
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