Die verschwundene Lady (German Edition)
überhaupt nicht mehr.
Anne unterdrückte ihre Eifersucht. Das Leben ihrer Mutter hatte sich lange genug um sie - Anne - gedreht. Sie selbst hatte sich abgenabelt. Da musste sie schon gestatten, zumal sie erwachsen und eigenständig war, dass ihre Mutter im Überschwang ihrer neuen Liebe den Geliebten über sie stellte.
Du bist eine egoistische Person, Anne Carmichael, sagte sich Anne. Ihre Absätze klapperten auf den Steinplatten. Der Nebel war dichter geworden. Die Straßenlaternen und erleuchteten Schaufenster bildeten helle Lichtinseln. Die Passanten eilten dahin. Auf der Park Road fuhren die Autos und die mächtigen Doppeldeckerbusse, die wie Ungetüme den Nebel durchdrangen, im Schritttempo .
Die junge Medizinstudentin ging nicht weit. Sie postierte sich in einer Einfahrt. Gut, ihre Mutter wollte ihr den Geliebten, Lord Henry, nicht vorstellen. Das war ihr Recht, wenn die Dinge so lagen, wie sie sie schilderte. Annes Recht wiederum war es, sich diesen Mann einmal anzusehen. Sie wollte ihrer Mutter heimlich im Nebel folgen, wenn sie das Haus verließ, und sie beobachten, wenn sie Lord Henry traf.
Anne gestand sich ein, dass sie neugierig war. Außerdem redete sie sich ein, nüchterner und sachlicher als ihre Mutter denken zu können, was Sir Henry betraf. Anne wollte verhindern, dass ihre Mutter ausgenutzt und unglücklich gemacht wurde.
Es konnte schließlich sein, dass jener Lord nur auf ein außereheliches Abenteuer aus war und sich dazu eine Geschichte ausgedacht hatte, die eine verliebte Frau im mittleren Alter ihm glaubte. Anne redete sich ein, zum besten ihrer Mutter zu handeln, wenn sie sie heimlich beobachtete.
Sie wartete über eine halbe Stunde. Ihre Geduld wurde auf eine harte Probe gestellt. Dann, endlich, verließ die Mutter das Haus. Mrs. Carmichael trug ihren Saganerz und tänzelte beschwingt. Obwohl Anne es nicht hören konnte, war sie überzeugt, dass ihre Mutter vor sich hin summte.
Die Tochter hatte ein merkwürdiges Gefühl. Bei den eigenen Eltern erwartete man nun mal keine Liebesabenteuer. Sie hatten gefälligst bieder und zurückhaltend zu sein, was sexuelle Eskapaden betraf, und sich um die Kinder zu kümmern. Das war zwar unlogisch, aber so sah jedes Kind es, und etwas von diesem Glauben blieb immer.
Mrs. Carmichael schaute nicht mal in die Schaufenster, was sie sonst immer tat. Sie überquerte die Straße an einer Fußgängerampel. Anne folgte in einigem Abstand. Der Nebel begünstigte sie. Zudem war ihre Mutter im Geist vollständig auf ihr Rendezvous eingestellt, dem sie wie ein Teenager entgegenfieberte, und dachte nicht mal im Traum, dass jemand ihr heimlich folgen könnte.
Marion Carmichael benutzte einen schmalen Durchgang zum Outer Circle an der Westseite des Parks. Er führte durch einen kleinen Innenhof mit Grünanlagen, an dem Mietshäuser standen. Der Nebel webte auch hier sein graues Tuch.
Mrs. Carmichael schritt durch den nächsten Durchgang zum Outer Circle, der für den Durchgangsverkehr gesperrt war. Lord Henry benutzte den Outer Circle trotzdem. Ein schöner Kavalier, der seine Dame allein durch den Nebel steigen lässt , dachte Anne. Sie überlegte sich aber, dass das ein Teil der Geheimhaltung des Paares sei.
Der Durchgang war hell. Anne schlüpfte rasch an der Wand entlang hindurch, wich nach rechts aus und blieb dicht an der Hauswand. Ein Stück entfernt, vorm nebligen Park, dessen Büsche und Bäume gespenstisch wirkten wie gedrungene Gestalten mit greifenden Zweigarmen, stand ein mattschwarzer, glänzend polierter Rolls-Royce mit silbernen Beschlägen. Der Nebel waberte um ihn herum. Die Standlichter der Nobelkarosse brannten.
In der Nähe des Wagens stand eine hochgewachsene Männergestalt mit tailliertem Mantel und grauem Zylinder im Nebel, eine sehr gepflegte, distinguierte Erscheinung. Leider konnte Anne das Gesicht des Mannes nicht erkennen, auf den ihre Mutter nun zueilte.
»Henry, Liebster!«
Seltsam gedämpft, wie durch Watte, klangen die Worte von Marion Carmichael durch den Nebel zu Anne hin. Sie verbarg sich hinter einer vorspringenden Hausecke. Um keinen Preis wollte sie entdeckt werden. Ihre Mutter hätte ihr das schwer verübelt, und es wäre eine große Blamage für Anne g e wesen.
Mrs. Carmichael wurde von dem hochgewachsenen Mann, der dabei den Zylinder abnahm, in die Arme ge s chlossen. Anne verrenkte sich fast den Hals, konnte sein Gesicht jedoch nur als ovalen Fleck im Nebel wahrnehmen. Das Paar küsste sich innig. Anne
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