Die versteckte Lust der Frauen - ein Forschungsbericht
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Wie die Tiere
Als sie sich das Thema Frauen und Sex vornahm, machte Meredith Chivers sich die Mühe, die zivilisierte Welt auszublenden. Gesellschaftliche Konventionen, Sündenregister, all die schwer fassbaren Einflüsse musste sie sich wegdenken. »Ich habe«, erklärte sie, »viel Zeit darauf verwendet, mir vorzustellen, wie das Leben der Frühmenschen ausgesehen haben könnte.«
Als ich Meredith Chivers vor sieben Jahren kennenlernte, war sie Mitte 30. Sie trug schwarze, hochhackige Stiefel, die fast bis zu den Knien reichten, und eine schmale, rechteckige, elegante Brille. Ihr blondes Haar fiel bis zum Ausschnitt eines schwarzen Tops. Sie war eine junge, aber ausgezeichnete Wissenschaftlerin der Sexologie, einer Disziplin, die ein bisschen wie ein Scherz klingt, wie eine fal sche Zusammensetzung von Vor- und Nachsilbe, von niederem Instinkt und hoher Wissenschaft. Doch die Kombination ist ernst gemeint â die Ambitionen auf diesem Gebiet waren schon immer groÃ. Und Chivers bildete da mit ihrem Vorhaben keine Ausnahme. Sie hoffte, Einblick in das Funktionieren der Psyche zu bekommen, hoffte, irgendwie hinter die Folgen von Gesellschaft und Erziehung, hinter alles Erlernte zu schauen und ein Stück vom ursprünglichen und essenziellen Selbst der Frauen zu erfassen: eine fundamentale Reihe sexueller Wahrheiten, die â von Natur aus â vorhanden sind.
Männer sind wie Tiere. Wenn es um die Lust geht, nehmen wir das quasi als gegeben. Der Mann wird von der Gesellschaft gezähmt, meist in gewissen Grenzen gehalten, doch die Unterdrückung ist nicht so umfassend, dass sie die Natur des Mannes gänzlich verbergen würde. Dies macht sich auf unendlich viele Arten bemerkbar â durch Pornografie, Promiskuität, durch unzählige Blicke auf unzählige begehrenswerte Körper von Passantinnen. Bestätigt wird das durch zahllose Lektionen der Populärwissenschaft, die besagen, dass der männliche Verstand eher von den niederen, weniger entwickelten neuralen Regionen des Gehirns gesteuert wird; dass Männer von evolutionären Kräften darauf programmiert sind, beim Anblick bestimmter physischer Eigenschaften oder Proportionen, wie einem Taille-Hüfte-Quotienten von 0,7, der heterosexuelle Männer von Amerika bis Zaire anmacht, unvermeidlich in Erregung zu geraten; dass Männer, wiederum gemäà dem Diktat der Evolution, den Auftrag verspüren, den Fortbestand ihrer Gene mit gröÃtmöglicher Wahrscheinlichkeit zu sichern, und sich daher verpflichtet fühlen, ihren Samen zu verbreiten, und nach so vielen 0,7-Frauen lechzen wie nur irgend möglich.
Aber warum behaupten wir nicht, dass auch Frauen wie Tiere sind? Chivers bemühte sich darum, animalische Realitäten aufzudecken.
Ihre Studien führte sie in diversen Städten durch, in Evanston, Illinois, das gleich neben Chicago liegt, in Toronto sowie zuletzt in Kingston, Ontario, einem total abgeschiedenen, winzigen Ort. Der Flughafen von Kingston besteht praktisch nur aus einem Hangar. Die Kalksteinhäuser des Ortes wirken zwar ausgesprochen solide, doch man kann sich des Eindrucks nicht erwehren, dass sich das kleine Zentrum an dem kalten Fleck, wo der Ontariosee in den Sankt-Lorenz-Strom übergeht, seit seiner Gründung als französischer AuÃenposten für den Pelzhandel im 17. Jahrhundert nicht groà weiterentwickelt hat. Kingston ist jedoch Standort der Queenâs University, einer groÃen und angesehenen Bildungseinrichtung, an der Meredith Chivers als Professorin für Psychologie lehrte. Gleichzeitig ist die Stadt so schlicht und bescheiden, dass man sich Leere dort mühelos vorstellen kann. Keine Gebäude, kein Asphalt, eigentlich nichts auÃer immergrünen Pflanzen und Schnee.
Die Umgebung erschien mir äuÃerst passend, als ich die Forscherin dort besuchte. Denn um zu den Erkenntnissen zu gelangen, die sie anstrebte, musste sie nicht nur gesellschaftliche Normen ausblenden; sie musste auch alle materiellen und immateriellen Strukturen loswerden, die auf Bewusstsein und Unterbewusstsein wirken; sie musste eine reine, ursprüngliche Situation erzeugen, um darauf fuÃend postulieren zu können: Das macht die weibliche Sexualität aus.
Aber solche Bedingungen konnte sie für ihre Studien nirgendwo herstellen. Und sehr wahrscheinlich hat es die angestrebte Unverfälschtheit auch nie gegeben. Selbst die
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