Die Verstummten: Thriller (German Edition)
Pilsensee, das ist zwar nicht winterfest und ein bisschen klein, aber … «
»Wanda, ich hab Nein gesagt.« Carina hob die Kartons auf und wollte sie ihrer Schwester wieder in die Arme drücken.
»Hallo, Tante Carina!« Sandro war die vielen Treppen heraufgestapft. Er schleifte seine Bettdecke hinter sich her, unterm Arm hielt er irgendein haariges Ding. »Ich hab Kerstin wiedergefunden.« Er strahlte sie an. »Die hat sich in einer Wollkiste von Mama versteckt.«
Das war also Kerstin, nach der er das letzte Mal, als er bei ihr übernachtete, verzweifelt gesucht hatte.
»Wir wohnen jetzt bei dir, hat Mama gesagt, weil wenn es regnet, können wir nicht auf der Straße schlafen. Und wir dürfen nichts schmutzig machen und nur im Sitzen pieseln, und das Spielzeug muss in den Kisten bleiben, und wenn wir doch eine aus Versehen ausleeren, dürfen wir sie nicht mit den anderen vermischen, weil es sonst ein Saustall wird.« Wie selbstverständlich kroch er samt Schuhen auf Wandasaltes Sofa und deckte sich mit seiner schmutzigen Decke zu.
In der S-Bahn erzählte ein Mann seinem Sitznachbarn von der Terrorwarnung, die frühmorgens im Radio durchgegeben worden war. Carina hörte nur mit halbem Ohr hin; nach der Explosion des Waldhäuschens kam ihr so was schon fastnormal vor. Am Kolumbusplatz hatten sie irgendein mysteriöses Gepäckstück gefunden. Wahrscheinlich hattebloß Wanda dort einen Teil ihrer Sachen verloren, dachtesie. Hoffentlich zerstörte das SEK es sofort an Ort und Stelle.
Ihre Schwester hatte ihr versichert, dass sie nur für ein paarTage bei ihr wohnen würden, allerhöchstens bis Carina aus Mexiko zurückkehrte. Nur bis sie etwas Passendes aufgetan hätten. Drei Zimmer, Küche, Bad, mit allem Komfort, zum Nulltarif, ist mitten in München bestimmt einfach zufinden, hätte Carina am liebsten gesagt, doch sie überreichte ihrer Schwester nur wortlos den Wohnungsschlüssel. Ihr fehlte einfach die Kraft für Diskussionen; und sie versuchte die Vorstellung auszublenden, wie ihre leere Wohnung Stück für Stück zugebaut worden war, wenn sie zurückkehrte.
Wider Erwarten verlief die weitere Fahrt ohne Verspätungen, und auch am Flughafen beim Einchecken gab es nur die übliche Schlange. Nach einem Milchkaffee und einer Käsesemmel erfolgte der Aufruf, dass die Maschine startbereit war. Endlich saß Carina im Flugzeug. Sie würde in Madrid zwischenlanden und dann weiter nach Mexiko-Stadt fliegen, wo Doña Lupita sie abholen wollte. Deren Freudenschrei, als Carina sie angerufen hatte und ihr sagte, dass sie zu ihrer Hochzeit käme, klang ihr noch immer in den Ohren.
Die Maschine rollte an, und die zwei Stewardessen erklärten mit großen Gesten, was im Falle eines Notfalls zu tun war. In wenigen Stunden würde alle Zeit auf morgen verschoben werden. Mañana. Carina schloss die Augen und versuchte die mexikanische Stimmung auf sich einströmen zu lassen. Da stoppte das Flugzeug. Der Kapitän verkündete, dass sie noch auf die Starterlaubnis warten müssten, und entschuldigte sich für die Verzögerung. Carina spähte zum Fenster hinaus. Ein Mini Cooper mit Warnblinklicht und kreisender Leuchte raste heran. Vielleicht hatten sie eine Schraube am Flieger vergessen, dachte sie, und der Mechaniker brachte sie persönlich vorbei?
Ganz ähnlich hatte es doch angefangen, mit einem Geisterfahrer, der seine Verfolger abhängen wollte. Sie musste an Enrico denken, der jetzt, noch nicht volljährig, erwachsen sein musste und für seine Schwester verantwortlich war. Vielleicht konnten sie bei der Oma in Gauting leben; sie hoffte es für die beiden, damit Flora nicht in ein Heim kam. Der kleine Fabian Loos war nach der Operation stabil, aber wie er sich weiterentwickelte, musste abgewartet werden.
»Ist was wegen der Terrorwarnung?«, tuschelte die Frau in der Reihe vor ihr.
»Die Polizei würde hier kaum mit einem Matchbox-Auto antanzen«, versuchte ihr Mann sie zu beruhigen. »Außerdem hätten wir dann längst alle aussteigen müssen.« Das Flugzeug fuhr wieder an. »Na siehst du, alles in Ordnung.«
Carina lehnte sich zurück und beobachtete durch das Bullauge, wie das Flugzeug in einer Sicherheitsposition geparkt und eine Fahrtreppe herangerollt wurde. Wer aus dem Auto stieg, konnte sie nicht erkennen. Dem Tumult nach zu urteilen, der im Cockpit entstand, war es anscheinend doch nicht nur eine letzte Schraube, die es noch anzuziehen galt. Die Tür wurde geöffnet, und sie erkannte Peter Schuster, der mit dem
Weitere Kostenlose Bücher