Die Verstummten: Thriller (German Edition)

Copiloten und mit einer der Stewardessen diskutierte. Was machte der denn hier? Dann hangelte er sich an den Sitzen vorbei, musterte die Passagiere, entdeckte Carina und quetschte sich zu ihr durch. Der Typ neben ihr sprang eilig auf, als wäre sie eine Terroristin und würde gleich verhaftet werden.
    Peter stieß mit ihm zusammen, stolperte und fiel fast auf sie. Als wäre es das Selbstverständlichste von der Welt, küsste er sie. Nur ganz leicht und sanft, fast hätte sie nichts davon gespürt. »Ich hab’s entschlüsselt. Die Buchstabensuppe. Tut mir leid, dass ich die Karte einfach eingesteckt habe, ohne dir was zu sagen, aber ich wollte dich überraschen.« Er setzte sich auf den Platz, den der Mann neben ihr geräumt hatte.
    »Welche Karte?« In den letzten Tagen hatte es so viele Karten gegeben, das Bärenbild von der verschwundenen Flora, Olivias Kartenausschnitte im Computer …
    »Die Geburtstagskarte von deiner Mutter.« Er wedelte mit dem gelben Umschlag und zog die Klappkarte heraus. »Die kleinen Zahlen zwischen den Buchstaben hier vorne drauf sind offensichtlich Seiten- und Zeilenzahlen. Solange man nicht weiß, in welchem Dokument man darin suchen soll, ist es aussichtslos. Die RAF -Leute zum Beispiel haben sich über Melvilles Moby Dick verständigt oder BURDA Nähschnitte benutzt. Als du gesagt hast, dass deine Mutter Karl Valentins Stück ›Der Firmling‹ am liebsten mochte, habe ich es damit probiert.« Er machte eine Pause und strahlte sie an.
    »Und deswegen stoppst du ein Flugzeug?« Carina spürte die Aufmerksamkeit aller Passagiere auf sich. »Meine Mutter ist tot. Was bringt mir noch irgendeine Botschaft von ihr?« Sie wollte nicht mehr darüber nachdenken, wie und wann sie gestorben war.
    »Das könnten wir doch zusammen herausfinden, oder? Also, es heißt: ›Ich lebe, auch wenn sie Dir was anderes erzählen, und bin immer in Deiner Nähe.‹«
    Carina stöhnte und lehnte sich zurück. Was sollte sie damit? Erst verklickerten sie ihr, dass sie ein halbes Kuckuckskind war, dann, dass ihre Mutter als Auftragskillerin Selbstmord begangen hatte, und nun lebte sie noch – wenn es überhaupt stimmte, was auf einer uralten Geburtstagskarte stand. Sie atmete aus. »Na toll, von allen Seiten werde ich behütet und beschützt. Noch mehr Kontrolle. Mir reicht mein Vater.«
    »Wegen dem bin ich auch hier, der ist außer sich.« Peter strich ihr über die Wange.
    »Das ist nichts Neues.« Allmählich entspannte sie sich etwas. Ja, fast amüsierte es sie, dass Peter wegen einer Karte und einem Kuss ein Flugzeug angehalten hatte.
    »Dein Vater tobt, weil der Prozess abgesagt ist. Krallinger wurde in seiner Zelle tot aufgefunden. Er wird gerade in die Rechtsmedizin überführt.«
    Jetzt sprang Carina auf und zerrte ihre Reisetasche aus dem Handgepäckfach.
    Mañana, Mexiko, bis irgendwann.

Nachwort
    Wie das Attentat auf den Bankmanager Alfred Herrhausen (1930–1989), um das es im ersten Teil der Elster -Reihe »Die Gesichtslosen« ging, ist auch der Mordanschlag auf Detlef Karsten Rohwedder (1932–1991), Vorsitzender der Treuhandanstalt, bis heute ungeklärt. Behauptet wird nach wie vor, dass es die bis heute gesichtslose, sogenannte »dritte Generation« der RAF war, die Rohwedder mit Scharfschützenpräzision erschoss und seine Frau schwer verletzte. Doch ähnlich dem Fall Herrhausen weisen zahlreiche Widersprüche bei der Mordaufklärung im Rohwedder-Fall eher auf einen Auftragskiller als auf die selbst ernannten »Stadtguerilla«-Terroristen der Rote Armee Fraktion. Aber solange die Geheimdienstakten gesperrt bleiben, wird die Öffentlichkeit nicht die Wahrheit erfahren und eine Thrillerautorin die Freiheit zur Spekulation nutzen können.
    Seit 2000 besitzt in Deutschland jedes Kind das verbürgte Recht, gewaltfrei aufzuwachsen. Auch Eltern machen sich strafbar, wenn sie ihre Kinder schlagen. Anstelle von Schlägen wenden viele das Schütteln an, was bei Kleinkindern irreparable Schäden anrichtet. Eine Rechtsmedizinerin wie Carina Kyreleis untersucht nicht nur Tote, sondern auch Lebende, die in ein Verbrechen verwickelt wurden. Misshandelte Kinder haben, ähnlich wie pflegebedürftige Menschen, keine Lobby, die für sie spricht. Deshalb ist die Aussage einer rechtsmedizinischen Gutachterin vor Gericht entscheidend dafür, ob ein Täter verurteilt wird oder nicht. Rechtsmediziner kriegen meist nur die schlimmsten Fälle zu Gesicht, Kleinkinder, die zu Tode geschüttelt wurden oder – wenn sie