Die Wahrheit
PROLOG
In diesem Gefängnis bestehen die Türen aus zolldickem Stahl. Fabrikneu kamen sie hierher, glänzend und glatt; nun aber sind sie von Dellen übersät. Menschliche Gesichter, Knie, Ellbogen, Zähne und Rückstände von Blut haben auf den grauen Oberflächen ihre Spuren hinterlassen. Knasthieroglyphen: Schmerz, Furcht, Tod - dies alles ist unauslöschlich auf diesen Türen verzeichnet, zumindest so lange, bis eine neue Metallplatte geliefert wird und alles von vorne beginnt.
In Augenhöhe sind viereckige Klappen in die Türen eingelassen. Die Wächter öffnen sie auf ihrem Rundgang und richten das grelle Licht von Taschenlampen auf das menschliche Vieh im Innern. Unvermittelt hämmern sie mit ihren Schlagstöcken gegen das Metall: Geräusche, die wie Gewehrschüsse klingen. Die Altgedienten sind daran gewöhnt; sie starren mit hintergründigem Trotz zu Boden oder blicken ins Leere - die Leere, die sie umgibt; die Leere ihres Lebens. Nicht, daß hier jemand Notiz davon nähme oder daß es jemandem etwas bedeuten würde. Die Neuen, die >Rotärsche<, verkrampfen sich noch ängstlich, wenn der Knall der Stockschläge ertönt oder das Licht aufflammt; einige machen sich in ihre Drillichhose und sehen zu, wie der Urin über ihre schwarzen Schuhe rinnt. Doch nach einiger Zeit kommen auch die Neuen darüber hinweg, und dann hämmern auch sie mit der Faust gegen die verdammte Tür, kämpfen die Bitterkeit und die Schuljungentränen nieder, die in ihnen aufsteigen. Wenn sie überleben wollen.
Nachts ist es in den Gefängniszellen so dunkel wie in einer Höhle, bis auf ein paar seltsame Schemen hier und da in der Finsternis. In dieser Nacht entlädt sich ein Gewitter über der Gegend. Wann immer Blitze vom Himmel zucken, peitschen sie grelles Licht durch die kleinen Plexiglasfenster in die Zellen hinein. Das Wabenmuster des Maschendrahts, der straff vor dieses Glas gespannt ist, wird bei jedem Blitz an die gegenüberliegende Zellenwand geworfen.
Jedesmal wenn Licht in die Zelle zuckt, wird das Gesicht des Mannes aus dem Dunkel gerissen, als hätte es unvermittelt eine Wasseroberfläche durchbrochen. Anders als die anderen Häftlinge ist er allein in seiner Zelle, allein mit sich selbst und seinen Gedanken. Die anderen Gefangenen fürchten ihn, sogar die Wächter, obwohl sie bewaffnet sind; denn er ist ein Mann von beeindruckender Gestalt. Wenn er an den anderen Knastbrüdern - kaum weniger harten und gewalttätigen Männern - vorübergeht, wenden diese rasch den Blick ab.
Sein Name ist Rufus Harms, und hier, im Militärgefängnis von Fort Jackson, hat er den Ruf eines Zerstörers: Wer sich mit ihm anlegt, den zermalmt er. Nie macht er den ersten Schritt, aber stets den letzten. Fünfundzwanzig Jahre hinter Gittern haben einen schrecklichen Tribut von ihm gefordert. Wie die Altersringe im Holz eines Baumes bilden die Spuren von Narben auf seiner Haut und die schlecht verheilten Knochenbrüche eine Chronik der Jahre, die er hier verbracht hat. Doch viel schlimmer noch wurde das weiche Gewebe seines Hirns in Beeinträchtigung gezogen, jener Teil, in dem die Menschlichkeit wohnt: Erinnerungen, Gedanken, Liebe, Haß - alles besudelt, alles gegen ihn selbst gerichtet. Vor allem die Erinnerungen: ein kleiner Tumor aus Eisen im Hinterkopf, der gegen das Rückgrat drückt.
In seiner massigen Gestalt schlummert gewaltige Kraft. Man kann es an den langen, muskulösen Armen erkennen, den breiten, kompakten Schultern. Selbst seine Leibesfülle läßt außergewöhnliche Stärke erahnen. Und dennoch ist er wie eine unterhöhlte Eiche, deren herausgerissene Wurzeln keinen Grund finden; ein Baum, im Wachstum gekappt, dessen Äste, zum Teil schon tot oder im Absterben begriffen, auch durch Beschneiden nicht mehr zu retten sind. Er ist ein lebendes Paradox: ein sanfter Mann, der andere Menschen respektiert und treu an seinen Gott glaubt; zugleich aber trägt er unwiderruflich das Stigma eines grausamen Mörders. Deshalb wird er von den Wächtern und den anderen Gefangenen in Ruhe gelassen. Mehr wollte er auch gar nicht. Bis zu diesem Tag, als sein Bruder ihm etwas brachte. Einen Topf voller Gold am Ende des Regenbogens, ein Aufbranden der Hoffnung. Einen Weg, der hinausführt aus diesem Ort.
Ein weiterer Blitz reißt Harms’ Augen aus der Finsternis. Sie sind dunkelrot verfärbt, als wären sie blutunterlaufen - bis man die Tränen auf seinem dunklen, massigen Gesicht bemerkt. Als das Licht des Blitzes erlischt, glättet er das
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