Die Verstummten: Thriller (German Edition)
Kühlerhaube seines Fords sehen konnte. Mit dem Starten des Motors schaltete sich automatisch das Radio ein. Sie lenkte den Wagen aus der Tiefgarage und wurde von der Sonne geblendet, die nach dem heftigen Gewitter, das vor zwei Stunden auf München niedergegangen war, wieder grell herunterbrannte. Carina klappte die Blende herab.
»Brauchst du das Navi?« Ihr Vater schob die Hand unter den Gurt, wo er auf die OP -Narbe drückte.
»Aus München finde ich schon raus, aber dann zu Silvias Seminar … wo ist das überhaupt?«
Er zog einen kleinen Zettel aus der Brusttasche. »In der Turmackerstraße. Gleich am Ortsanfang von Garmisch, hat sie gesagt.«
Bereits am späten Vormittag war die Innenstadt verstopft. Als hätten die Urlauber den Platzregen abgewartet und würden allesamt genau jetzt aufbrechen. Wohnmobile mit Fahrrädern und Vans mit Dachgepäckständern preschten durch die große Pfütze an der Ausfahrt und bespritzten die Fußgänger, die gerade ihre Schirme geschlossen hatten. Als sich endlich eine Lücke auftat, schoss Carina mit einem Schlenker in die Albert-Roßhaupter-Straße. Matte zischte durch die Zähne und klammerte sich am Fenstergriff fest.
»Was sagt der Arzt zu deiner Narbe, ist alles gut verheilt?« Hätte das Projektil, das ihm aus der Beckenschaufel entfernt worden war, nur wenige Millimeter daneben eingeschlagen, wäre es tödlich gewesen. »Du weißt, dass so eine Schusswunde jederzeit hochgehen kann?«
»Hochgehen! Wie du dich ausdrückst, als wärst du beim Sprengkommando. Manchmal sticht es, aber das ist normal.«
»Normal? Wer sagt das?« Sie fuhr ein paar Meter in Richtung der nächsten roten Ampel, bremste dann, weil ein Wagen von links auf ihre Spur einscherte.
Matte strich ihr über den Arm. »Konzentrier dich auf die Straße. Mir geht’s gut, wirklich, da ist nichts.«
»Fühlt es sich komisch an, spürst du ein Ziehen oder Stechen? Darf ich es mir mal ansehen?«
»Das würde dir so passen, dass sich dein alter Vater vor dir entblößt, nichts da.« Er tätschelte ihre Hand, die auf dem Lenkrad lag. »Aber nett, dass du dich um mich sorgst. Mich drückt nur der Scheißgürtel, dabei ist er ohnehin im letzten Loch.« Er öffnete die Schnalle und atmete aus. »Vielleicht sollte ich weniger Ausgezogene essen oder mir Hosenträger zulegen. Mit dem Stock zusammen, das gibt den perfekten Opa.« Sein Enkel Sandro, der Sohn ihrer Schwester Wanda, hatte heute seinen letzten Kindergartentag. »Wann ist noch mal Sandros Abschiedsfeier?«
»Um zwei geht’s los.« Carina sah auf die Uhr am Armaturenbrett, vier nach elf. »Das schaffen wir locker, eine Stunde nach Garmisch, dann eine zurück. Wir könnten sogar noch mittagessen gehen, ja?«
»Wieso, gibt es da nichts, im Kindergarten? Aber gute Idee, lieber essen wir vorher was.« Er seufzte. »Drei Kreuze, dass diese nervige Kindergartenzeit endlich vorbei ist.« Laut Wanda waren alle Erzieher unfähig und erkannten Sandros Stärken nicht. Wo er doch mit sechs Jahren schon eigene Songs komponierte. »Erzähl du lieber was. An was seid ihr gerade dran? Rekonstruierst du mal wieder ein Gesicht?«
Sie schwieg. Nicht sie, sondern er war mit Antworten überfällig.
»Was gibt’s Neues in Haidhausen, wie sind deine Nachbarn?«, bohrte er weiter.
Außer dem Hausmeister hatte Carina noch niemanden kennengelernt; vielleicht sollte sie mal mit einem Guglhupf herumgehen und sich vorstellen: Hallo, ich bin die Rechtsmedizinerin aus dem Dachgeschoss, also wenn bei Ihnen mal ein Toter herumliegt …
Vor dem Luise-Kiesselbach-Platz standen sie im Stau. Ferienbeginn in Bayern. Manche Eltern schienen ihre Sprösslinge gleich nach der Zeugnisverteilung verladen zu haben.
»Wenn da was wäre bei dir, eine Bauchfellentzündung oder Ähnliches, würdest du mir das sagen?«, wandte sie sich an ihren Vater.
»Wenn, wenn … du klingst wie der Wenn-wir-Kurti, aber der war das nicht.«
»Kurt Krallinger war was nicht?« Carina kapierte gar nichts mehr. »Heißt das, du kannst dich nicht mehr erinnern, ob er auf dich geschossen hat?« Sie drehte das Radio leiser.
Matte rutschte auf seinem Sitz hin und her. »Doch, er hat auf mich geschossen, aber da steckt mehr dahinter.«
Am Montag begann der Mordprozess. Anfangs hatte es geschienen, als würde es zu keiner Anklage kommen, da Krallinger für das Bundeskriminalamt gearbeitet hatte und der Fall intern geklärt werden sollte. Aber ob unter dem Druck der Medien oder weil Mattes Chef einen guten
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