Die Versuchung der Zeit: Hourglass 2 - Roman (German Edition)
dem Haar gezogen und tippte damit auf ihr Notizbrett. Sie musterte uns eindringlich, hatte jedoch nicht aufgehört zu lächeln.
»Danke«, flüsterte ich.
»Geh jetzt«, sagte Ava. »Wir sagen dir Bescheid, sobald wir irgendwas herausfinden.«
Die Krankenschwester, Mary Ellen, zwang mich, ein Krankenhaushemd anzuziehen, und machte Anstalten, mir eine Infusion zu legen.
»Wozu der Tropf? Sicher reicht eine elastische Binde. Und wieso brauche ich ein Krankenhaushemd?« Es war zu schmal für meine breiten Schultern und ließ sich hinten nicht schließen. Die Schwester sah diskret weg. »Können Sie nicht einfach ein Pflaster draufkleben und mich nach Hause schicken?«
»Sei doch nicht so brummig. Wir wollen dir doch nur helfen. Der Tropf versorgt dich mit Flüssigkeit.« Geschickt stach Mary Ellen mir die Nadel unter die Haut. »Ab jetzt wird weder gegessen noch getrunken. Dein Magen muss leer bleiben, falls der Arm gebrochen ist. Wenn es ein Trümmerbruch ist, musst du operiert werden.«
»Operieren? Das geht nicht. Ich habe jetzt keine Zeit. Ich muss …« In diesem Augenblick verschwammen die Konturen aller Gegenstände im Raum, und ich vergaß, worauf ich wütend war. »Was haben Sie da gerade gemacht?«
»Ich habe dir ein bisschen was gegen die Schmerzen gegeben und zur Beruhigung. Du scheinst ziemlich aufgeregt zu sein.« Sie trat einen Schritt zurück, sah mich noch einmal prüfend an und verließ den Raum.
»Aufgeregt? Du hast ja keine Ahnung, wie ich mich aufführe, wenn ich aufgeregt bin!« Meine Panik konnte die Wirkung der Medikamente, die durch meine Adern gepumpt wurden, nicht aufhalten. Derart starke Schmerz- und Beruhigungsmittel hatten denselben betäubenden Effekt wie Alkohol. Ich war nicht mehr in der Lage, die Emotionen anderer Menschen zu spüren, nicht einmal meine eigenen.
Nicht Lilys Gefühle.
Ich versuchte, mich aufzusetzen und die Augen offen zu halten, aber die Schwester musste mir eine Dröhnung verabreicht haben, die ein Pferd umgehauen hätte.
Ich weiß nicht, wie, aber das war der Moment, als die Wand zwischen mir und Lily einstürzte.
Ich hatte gewusst, dass wir miteinander verbunden waren, doch der Schmerz, den ich jetzt spürte, war so stechend, als würde ich in ihrer Haut stecken. Jede Emotion wurde verstärkt. Sie war stinksauer und verängstigt und besorgt. Der stinksaure Teil ließ mich kurz hoffen, dann verkrampften sich meine Muskeln, als wäre ich tagelang gerannt. Mein Magen zog sich zusammen.
Es ging ihr schlecht.
Furcht. Verzweiflung. Furcht. Verzweiflung.
Ich kämpfte gegen beide Gefühle an, während ich in einen tiefen Schlaf fiel.
50. KAPITEL
I ch riss die Augen auf.
Angst. Verzweiflung.
Lily.
Ihr Schmerz kam aus einer klaren Richtung, und er war nicht nur emotional.
Es war fünf Uhr. Eine Stunde vor Sonnenuntergang. Mein linker Unterarm war eingegipst. Ich zog die Zugänge der beiden Infusionen heraus und stieg aus dem Bett. Meine Beine waren stark genug, an meine Kopfschmerzen erinnerte nur noch ein dumpfer Druck im Schädel. Meine Sachen lagen ordentlich zusammengefaltet im Schrank, und ich zog sie schnell an – zumindest so schnell, wie es mit dem Gipsarm möglich war. Mein Handy konnte ich nirgends entdecken. Lilys Emotionen kamen jetzt kontinuierlicher und machten mich ganz krank vor Sorge.
Ich steckte den Kopf durch die Tür und spähte nach links und rechts, bevor ich zur Treppe eilte.
Sobald ich es auf die Straße geschafft hatte, fing ich zu rennen an, wobei ich mir den gebrochenen Arm an die Brust presste. Das Krankenhaus war nur wenige Blocks von der Innenstadt entfernt. Barrikaden sperrten sämtliche Straßen ab, die Abendluft war erfüllt von Musik und Gelächter.
Ich hatte vollkommen vergessen, dass heute Halloween war.
Stichtag . Mit einem Mal hatte das Wort eine ganz neue Bedeutung.
Auf der Straße wimmelte es nur so von Geistern und Hexen. Überall drängten sich Superhelden, Räuber, Mumien, Vampire und Werwölfe. Ein breites Gefühlsspektrum zwischen Übermut und Enttäuschung schwappte mir entgegen und sorgte in Kombination mit meinem von Medikamenten zugedröhnten Schädel dafür, dass die Klarheit, mit der ich Lilys Emotionen noch vor zehn Minuten gespürt hatte, sich mehr und mehr auflöste.
»Konzentrier dich.« Ich blieb stehen, lehnte mich an einen Baum und schloss die Augen. Ich rief mir ins Gedächtnis, wie es sich angefühlt hatte, Lily zu küssen und im Arm zu halten. Doch dadurch wurde alles nur noch schlimmer.
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