Die Versuchung der Zeit: Hourglass 2 - Roman (German Edition)
Schleier waren Tore, die als Warteschleifen dienten, Eingangsportale in die Zukunft oder Vergangenheit, wo die Zeitreisenden standen, bevor sie auf die Brücken traten, über die sie in andere Zeitsphären vordrangen. Sie sahen aus wie glitzernde Vorhänge aus Sonnenstrahlen über dem Wasser.
Wo ein Schleier auftauchte, befand sich meist auch ein Zeitriss.
Ein Zeitriss war, als würde man dieselbe Filmszene in einer Endlosschleife sehen, immer wieder, nur dass es sich dabei um eine oder mehrere »Zeitlose« handelte, die in der Zeit stecken geblieben waren und die Gegenwart überlagerten. Nicht leibhaftig und unsichtbar für alle, die nicht das spezifische Zeitreise-Gen in sich trugen.
Bis vor Kurzem. Denn jetzt konnte auch ich die Zeitlosen sehen.
Was möglicherweise das Jazz-Trio erklärte, durch das die anderen Gäste ständig hindurchgingen. Als Em auftauchte, dem Trio auswich und auf mich zukam, wurde meine Zeitriss-Theorie bestätigt.
Ems Gesichtsausdruck verhieß nichts Gutes.
»Kaleb Ballard, ich trete dir gleich so was von in den Hintern …«
Ein so zierliches Persönchen wie Emerson Cole hätte nicht so viel Macht über mich haben dürfen. Sie legte ihren Sonnenschirm auf einem leeren Tisch ab, schwang ihren Reifrock zur Seite und drängte mich nach Kräften in eine Nische. Ich versuchte, mich an der Tischkante abzustützen, war jedoch so unsicher auf den Beinen, dass ich auf die Sitzbank sackte.
»Ich dachte, wir hätten dich von deinem Alkoholproblem geheilt.« Sie drosch auf meinen Oberarm ein. Zweimal.
»Aua.« Sie war durchaus in der Lage, mir körperliche Schmerzen zuzufügen. »Und ich dachte, wir hätten dich von deinem Aggressionsproblem geheilt.«
Mit dem blauen Seidenkleid, den weißen Handschuhen und den blonden Ringellöckchen sah sie aus, als wäre sie dem alten Filmklassiker Vom Winde verweht entsprungen. Oder einer nostalgischen Südstaaten-Hochzeitsgesellschaft, deren Braut die hässlichsten Brautjungfernkleider ausgewählt hatte, die sie finden konnte.
»Also wirklich, Kaleb.« Ihre Besorgnis streute noch Salz in die Wunde. »Warum?«
»Du kennst den Grund.« Zumindest einen Teil davon. Ich seufzte und legte die Stirn auf die Tischplatte.
»Der Zeitriss nach der Schule hat mir ebenfalls einen Heidenschreck eingejagt. Aber noch mehr hat es mich schockiert, dass du ihn auch sehen konntest. Doch ich bin joggen gegangen. Und du hast dir literweise was auch immer reingeschüttet. Ich tippe auf Rum, oder was war’s?«
»Bitte, sei doch nicht so streng mit mir.« Ich blickte zu ihr hoch und bemühte mich, eine flehentliche Miene aufzusetzen. »Für mich ist es schwerer als für dich. Ich wusste nicht, was ich sonst tun sollte.«
»Sich sinnlos zu besaufen hat noch niemandem geholfen.« Sie nahm ein Glas Eiswasser vom Tablett eines Kellners und drückte es mir in die Hand. »Wir müssen hellwach sein – immer –, bis wir herausgefunden haben, was los ist.«
»Ich bin nicht besoffen. Nur ein bisschen angeheitert.« Leider. Ich trank einen großen Schluck Eiswasser und musterte ihr Outfit. »Warum hast du dich als Scarlett O’Hara verkleidet?«
»Insiderwitz.«
»Über wen?«
»Mich selbst.«
»Willst du dich nicht setzen?«
Stirnrunzelnd deutete sie auf ihren umfangreichen Rock. »Ich hab noch nicht raus, wie das gehen soll.«
Ich schüttelte den Kopf und nahm einen weiteren Schluck, wobei ich versuchte, mein Grinsen hinter dem Glas zu verstecken, aber ich konnte Em nichts vormachen.
Statt mir einen weiteren Boxhieb einzufangen, packte ich ihre Faust und hielt sie ein klein wenig zu lange fest, denn im nächsten Moment fiel ein großer Schatten auf unseren Tisch.
»Hey, Leute.«
Michael.
Em löste sich von mir und stellte sich auf die Zehenspitzen, um Michael einen Begrüßungskuss zu geben. Für den Bruchteil einer Sekunde wurde das Licht über uns ein wenig schwächer, und mein Magen krampfte sich zusammen. Ich konzentrierte mich auf die Holzmaserung der Tischplatte, während der zornige Hitzeschwall in meiner Brust mir bis in die Fingerspitzen schoss. Seit sie ein Paar geworden waren, stellte das Funkensprühen zwischen ihnen ein Problem dar. Während ich stets dafür sorgte, dass meine wichtigsten elektronischen Geräte an einen Überspannungsableiter angeschlossen waren, hatte ich noch keinen Weg gefunden, um mich selbst zu schützen.
Sobald das Licht aufhörte zu flackern, wurde ich Zeuge einer stummen Kommunikation. Ich sah, wie Emerson Schluckbewegungen
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