Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Verwirrungen des Zöglings Törleß

Die Verwirrungen des Zöglings Törleß

Titel: Die Verwirrungen des Zöglings Törleß Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Musil
Vom Netzwerk:
auf einer Reise ... in einer kleinen italienischen Stadt ... er wohnte mit seinen Eltern in einem Gasthofe nicht weit vom Theater. Jeden Abend gaben sie dort dieselbe Oper, und jeden Abend hörte er jedes Wort und jeden Ton herüber. Aber er war der Sprache nicht mächtig. Und jeden Abend saß er dennoch am offenen Fenster und hörte zu. Auf diese Weise verliebte er sich in eine der Schauspielerinnen, ohne sie je gesehen zu haben. Er war nie vom Theater so ergriffen worden wie damals; er empfand die Leidenschaft der Melodien wie Flügelschläge großer dunkler Vögel, als ob er die Linien fühlen könnte, die ihr Flug in seiner Seele zog. Es waren keine menschlichen Leidenschaftenmehr, die er hörte, nein, es waren Leidenschaften, die aus den Menschen entflohen, wie aus zu engen und zu alltäglichen Käfigen. Nie konnte er in dieser Erregung an die Personen denken, welche dort drüben – unsichtbar – jene Leidenschaften agierten; versuchte er sie sich vorzustellen, so schössen augenblicks dunkle Flammen vor seinen Augen auf oder unerhört gigantische Dimensionen, so wie in der Finsternis die menschlichen Körper wachsen und menschliche Augen wie die Spiegel tiefer Brunnen leuchten. Diese düstere Flamme, diese Augen im Dunkel, diese schwarzen Flügelschläge liebte er damals unter dem Namen jener ihm unbekannten Schauspielerin.
    Und wer hatte die Oper geschaffen? Er wußte es nicht. Vielleicht war der Text ein fader, sentimentaler Liebesroman. Hatte sein Schöpfer gefühlt, daß er unter den Tönen zu etwas anderem wurde?
    Ein Gedanke preßte Törleß am ganzen Körper zusammen. Sind auch die Erwachsenen so? Ist die Welt so? Ist es ein allgemeines Gesetz, daß etwas in uns ist, das stärker, größer, schöner, leidenschaftlicher, dunkler ist als wir? Worüber wir so wenig Macht haben, daß wir nur ziellos tausend Samenkörner streuen können, bis aus einem plötzlich eine Saat wie eine dunkle Flamme schießt, die weit über uns hinauswächst? ... Und in jedem Nerv seines Körpers bebte ein ungeduldiges Ja als Antwort.
    Törleß sah mit glänzenden Augen um sich. Noch immer waren die Lampen, die Wärme, das Licht, die emsigen Menschen da. Aber er kam sich unter all dem wie ein Auserwählter vor. Wie ein Heiliger, der himmlische Gesichte hat; – denn von der Intuition großer Künstler wußte er nichts.
    Hastig, mit der Geschwindigkeit der Angst, griff er nach der Feder und notierte sich einige Zeilen über seine Entdeckung; noch einmal schien es in seinem Innern weithin wie ein Licht zu sprühen, – – – – – dann brach ein aschgrauer Regen über seine Augen, und der bunte Glanz in seinem Geiste erlosch. – – – –
     

Aber die Episode mit Kant war nahezu gänzlich überwunden. Bei Tage dachte Törleß überhaupt nicht mehr daran; die Überzeugung, daß er selbst schon nahe der Lösung seiner Rätsel stehe, war viel zu lebhaft in ihm, als daß er sich noch um die Wege eines anderen bekümmert hätte. Seit dem letzten Abend war ihm, er habe den Griff zu der Türe, die hinüberführe, schon in der Hand gefühlt, nur sei er ihm wieder entglitten. Da er aber eingesehen hatte, daß er auf die Hilfe philosophischer Bücher verzichten müsse, und auch kein rechtes Vertrauen zu ihnen hatte, stand er ziemlich ratlos da,wie er ihn wiedergewinnen wolle. Er machte einige Male Versuche, in seinen Aufzeichnungen fortzufahren, allein die geschriebenen Worte blieben tot, eine Reihe von grämlichen, längst bekannten Fragezeichen, ohne daß jener Augenblick wieder erwacht wäre, in dem er zwischen ihnen hindurch wie in ein von zitternden Kerzenflammen erhelltes Gewölbe geblickt hatte.
    Daher beschloß er, so oft als möglich, immer und immer wieder die Situationen zu suchen, welche jenen für ihn so eigentümlichen Gehalt in sich trugen; und besonders häufig ruhte sein Blick auf Basini, wenn dieser, sich unbeobachtet glaubend, harmlos unter den anderen sich bewegte. »Einmal«, dachte sich Törleß, »wird es schon wieder lebendig werden und dann vielleicht lebhafter und klarer als bisher.« Und er wurde ganz beruhigt durch diesen Gedanken, daß man sich solchen Dingen gegenüber einfach in einem finsteren Raume befinde und einem nichts übrigbleibe, als, wenn man die richtige Stelle wieder unter den Fingern verloren hat, nochmals und nochmals aufs Geratewohl die dunklen Wände abzutasten.
    In den Nächten jedoch verfärbte sich dieser Gedanke ein wenig. Es überkam ihn da eine gewisse Beschämung darüber, daß

Weitere Kostenlose Bücher