Die Verwöhnungsfalle - für eine Erziehung zu mehr Eigenverantwortlichkeit
geraten.
Als mich Wieland Backes in der Vorbereitung der SWR-Fernsehsendung Nachtcafé mit dem Titel »Erziehung – wozu?« fragte, welche Position ich innerhalb der verschiedenen pädagogischen Richtungen einnehme und wie ich die Notwendigkeit einer zeitgemäßen Erziehung auf den Punkt bringe, wurde mir so richtig deutlich, auf was ich mich mit meiner Zusage zur Teilnahme eingelassen hatte. Ich schaute im Schnellverfahren – in fünf Tagen stand die Sendung an – noch einmal die verschiedensten mir verfügbaren Erziehungsklassiker durch, verglich eher konservative mit progressiven Theorieansätzen, bezog auch meine mittlerweile recht angestaubten Seminarmitschriften aus der Uni-Zeit mit ein und klemmte mir zur Auffrischung Ekkehard von Braunmühls Antipädagogik sowie Alexander S. Neills Theorie und Praxis der antiautoritären Erziehung als Lektüre für die Flugzeit nach Stuttgart unter den Arm.
Das Ergebnis der Materialsichtung: Viele Autoren verdeutlichen die Erziehungsnotwendigkeit des Menschen, benennen die Wichtigkeit von Normen in der Erziehung, heben hervor, dass der Educand ohne die zielgerichtete Hilfestellung von pädagogisch Befähigten nicht lebensfähig sei, während andere Autoren den Begriff von Erziehung meiden und kurz und bündig fordern: »Beziehung anstelle von Erziehung.« Wieder andere unterstreichen die Notwendigkeit emanzipatorischer Prozesse oder fordern radikal die Abschaffung jeglicher Erziehung, weil sie dem Menschen nur schade.
Unabhängig von meinem Bestreben, mir die Bandbreite der Diskussion zum Begriff der Erziehung – von der unbedingten Notwendigkeit bis hin zu ihrer Gefährlichkeit – für die Fernsehdiskussion noch einmal vor Augen zu führen, kreisten meine Gedanken immer häufiger um die Frage: Wie wollen eigentlich Eltern und andere Erziehungskräfte bei einem solchen Konglomerat von Auffassungen und als wissenschaftlich dargestellten Standpunkten zu einer handlungsfähigen eigenen Position gelangen?
Bevor ich diesen Überlegungen ansatzweise nachging, hörte ich schon erste Kritiker-Stimmen: »Ich möchte mir auf jeden Fall mein Agieren und Reagieren aus dem Bauch heraus erhalten, das werde ich mir auch nicht durch erziehungswissenschaftliche Argumente kaputt machen lassen!« – »Viele Standpunkte bieten doch erst die Chance, sich hier und dort etwas herauszunehmen!« – »Es gibt keinen Konsens in Fragen der Erziehung und jeder Mensch geht eben anders ran! Wollen Sie uns etwa etwas anderes weismachen?«
Dies zu versuchen, würden weder Seminarteilnehmer noch interessierte Leser ernst nehmen. Da ein unausgegorenes Durcheinander von Auffassungen und Absichtserklärungen jegliches situationsgemäße Handeln behindert, stelle ich hier die Grundsatzfrage »Erziehung wozu?«. Damit werden zwei Fährten gelegt. Die eine geht dem Weshalb , die andere dem Wohin des Tuns nach.
Weshalb Erziehung?
Ein Haftbefehl für den Autor und ein Verbot des Buches im Paris des Frühjahrs 1762 war die unmittelbare amtliche Reaktion Frankreichs auf Rousseaus Roman Emil oder Über die Erziehung. Welch revolutionäres Gedankengut wurde da zwischen den Kernaussagen ›Zurück zur Natürlichkeit‹ und ›Hinwendung zum Kind‹ vermutet? Wie groß muss die Angst der Obrigkeit gewesen sein, dass eine zu Papier gebrachte pädagogische Fragestellung diese Reaktion auslöste?
»Alles ist gut, wie es aus den Händen des Schöpfers kommt; alles entartet unter den Händen des Menschen«, so leitet Rousseau seine »Grundgedanken« zur Erziehung ein. »Das Herz duldet keinen anderen Gesetzgeber als sich selbst« – war das der Grund, welcher die Herrschenden so in Panik versetzte? »Was uns bei der Geburt fehlt und was wir als Erwachsene brauchen, das gibt uns die Erziehung.« Der unnatürliche Umgang von Eltern mit ihren Kindern, die Gleichgültigkeit im Umgang mit Säuglingen forderten geradezu eine Neubesinnung heraus. Rousseau differenzierte: »Die Natur entwickelt unsere Fähigkeiten und unsere Kräfte; die Menschen lehren uns den Gebrauch dieser Fähigkeiten und Kräfte. Die Dinge aber erziehen uns durch die Erfahrung, die wir mit ihnen machen, und durch die Anschauung.« 6 Also lautet die Quintessenz etwas vereinfacht: Je weniger Menschen durch Regeln und Verbote intervenieren, desto umfangreicher können Natur und Dinge auf das Leben vorbereiten. Ich möchte der These des ›Gewährenlassens‹ etwas nachgehen.
Ein Blick in Standardwerke der vergleichenden Völkerkunde – unter
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