Liebe, unendlich wie das Meer
1. KAPITEL
Alex Moorehouse dachte nicht im Traum daran, auf das Klopfen an seiner Zimmertür zu reagieren – und das nicht nur, weil er im Bett lag und sein Buch gerade besonders spannend war. Auch sonst konnte er auf Besucher gut verzichten. Im Moment kam die Störung sogar besonders ungelegen – gerade hatte er für sein eingegipstes Bein eine Position gefunden, in der der ständige Schmerz erträglicher wurde. Das kam selten genug vor, also würde er sich bestimmt nicht freiwillig bewegen.
Sein Unfall war jetzt über drei Monate her, aber noch immer wollte der mehrfach gebrochene Unterschenkel nicht heilen. In dieser Zeit hatte er vier Operationen über sich ergehen lassen, und noch immer waren die Ärzte nicht sicher, ob sie sein Bein überhaupt retten konnten. Alex hasste es, so unbeweglich und abhängig zu sein.
Wieder klopfte es, und wieder rührte er sich nicht. Wenn er nicht antwortete, dachten seine beiden Schwestern, er schliefe, und kamen später wieder. Sie schauten sowieso viel zu oft nach ihm und lagen ihm dabei ständig mit irgendwas in den Ohren: Er sollte mehr essen, sich nach unten zum Rest der Familie gesellen oder sich einen Therapeuten für die Trauerarbeit suchen.
Sosehr er die beiden liebte – manchmal wünschte er sich, sie würden ihn einfach in Ruhe lassen und sich um ihre eigenen Angelegenheiten kümmern.
Die Tür öffnete sich einen Spalt, und Joy, die jüngere der Schwestern, steckte den Kopf herein. Ihr erster Blick ging wie immer zur Whiskyflasche neben dem Bett. Er überlegte kurz, ob er ein Kissen darüberwerfen sollte, ließ es dann aber. Wozu die Mühe?
Abwartend und ein wenig trotzig schaute er Joy an. Sie schien ziemlich nervös zu sein, denn sie wich seinem Blick aus.
„Da ist jemand, der dich sehen will“, erklärte sie zögernd.
„Schick ihn weg“, verlangte er. Seine Stimme klang heiser. Der viele Whisky schlug ihm langsam auf die Stimmbänder. Seiner Leber ging es wahrscheinlich auch nicht sehr gut.
„Aber …“
„Ich habe niemanden eingeladen“, schnitt er ihr das Wort ab. „Niemand weiß, dass ich hier bin. Also schick ihn weg.“
Vor einigen Wochen hatte ein Brand sie aus ihrem bisherigen Zuhause White Caps vertrieben. Das große Herrenhaus am Saranac Lake war die ehemalige Sommerresidenz der Familie Moorehouse. Alex’ Eltern hatten den Landsitz jedoch zu einer Hotelpension umgebaut, um die Unterhaltungskosten bestreiten zu können, und wohnten mit ihren Kindern im Dienstbotenflügel. Jetzt führte Frankie das Geschäft zusammen mit ihrem Mann Nate. Gerade als es nach langen schweren Jahren endlich wieder aufwärtszugehen schien, hatte ein defekter Herd einen Küchenbrand verursacht, der auch den Dienstbotenflügel in Mitleidenschaft gezogen hatte.
Nun wohnten sie auf Einladung von Joys Verlobtem Gray alle in seinem Sommersitz in Saranac Lake, bis das White Caps renoviert war.
„Alex …“, versuchte es Joy noch einmal.
Er hob eine Augenbraue. „Gibt es sonst noch was?“
Joy seufzte. „Es ist kein Er, sondern eine Sie“, erklärte sie. „Cassandra.“
Gequält schloss Alex die Augen. Sofort sah er die Frau vor sich, die ihm seit sechs Jahren nicht aus dem Kopf ging. Ihre kupferroten Haare und ihre großen grünen Augen. Ihr strahlendes Lächeln, ihre unvergleichliche Eleganz. Ihren Ehering.
Wie immer überwältigten ihn an dieser Stelle Schuldgefühle. Er sah sich wieder auf der Jacht, die wie ein Spielzeugschiffchen vom Hurrikan hin und her geworfen wurde. Hielt wieder die Hand seines Segelpartners und Freundes umklammert, den eine Welle über Bord gespült hatte. Durchlebte den entsetzlichen Moment, in der er ihn losließ und Reese von der See verschluckt wurde. Er hatte die Wellen abgesucht, seinen Namen gerufen, bis er heiser gewesen war. Vergeblich.
In jener schrecklichen Nacht blieb das Schicksal unerbittlich. Alex war schließlich selbst von einem herunterkrachenden Trümmerstück eingeklemmt und erst am nächsten Morgen von der Küstenwache gerettet worden. Reese Cutler jedoch war ertrunken und Cassandra Cutler zur Witwe geworden. Eine Schuld, die Alex bis zum Ende seines Lebens verfolgen würde.
„Du hast Cassandra zu deiner Hochzeit eingeladen?“, stieß Alex hervor.
Joy schluckte. „Ja.“
„Und sie wird hier wohnen?“
„Ja.“
„Dann ziehe ich aus.“ Er machte Anstalten, sich aufzusetzen, ließ sich aber zurücksinken, als der Schmerz in seinem Bein sich wieder meldete.
„Das geht doch nicht“, widersprach
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