Die Verwöhnungsfalle - für eine Erziehung zu mehr Eigenverantwortlichkeit
besonderer Berücksichtigung sogenannter primitiver Kulturen – verdeutlicht: Erziehung als reflektierter Prozess, wie er bei uns bekannt ist, existiert bei diesen weitgehend von Zivilisationsbestrebungen unberührt gebliebenen Kleinst-Völkern fast gar nicht. Von den Yequana-Indianern im Dschungel Venezuelas berichtet Jean Liedloff: »Noch ehe die Nabelschnur abgefallen ist, ist das Leben des Säuglings voller Anregungen.« 7 Durch den unmittelbaren Körperkontakt – meist im Tragetuch – werden alle Tätigkeiten und Ereignisse im Tagesablauf der Mutter miterlebt. Aus der Position sicherer Geborgenheit wächst Vertrauen und weicht Angst, entwickeln sich Erwartungen, entsteht Neugier zu weiterführender Welterkundung. So erfahren Kleinkinder viele Impulse, um sich im Einklang mit den Stammesgenossen zu entwickeln. »Wenn dann eine seiner Handlungen Missbilligung erfährt, fühlt es, dass man nicht es selbst ablehnt, sondern seine Tat, und ist motiviert zu kooperieren.« 8
In Zentralafrika werden die wichtigsten Funktionen des Heranwachsens bei starker Selbstüberlassung im Zusammenleben der Kinder innerhalb des Clans ›einfach so‹ erlernt, ob es sich um bestimmte Fertigkeiten, Geschick im Umgang mit kleinen Aufgaben oder um das Sozialverhalten handelt. Darüber hinaus orientieren sich die älteren Jungen am Leben der Männer, gehen mit auf Jagd oder Fischfang, während die älteren Mädchen das Tun der Frauen als Vorbild nehmen und nicht selten auch Kleinstkinder betreuen. Innerhalb der Initiationsriten werden Jungen und Mädchen getrennt auf ihre Erwachsenenrolle vorbereitet, meist für einige Wochen in der Abgeschiedenheit des Urwaldes oder eines unbekannten Geländes unter Anleitung einiger Älterer. Auf störendes oder unsoziales Verhalten erfolgen in der jeweiligen Situation Hinweise und Zurechtweisungen – bis hin zu kleinen Strafen.
Die Bedeutung von Konsequenzen im Umgang miteinander wird durch das Leben selbst deutlich. Wenn z. B. ein Eipo-Mädchen im afrikanischen Busch mit seinen Spielgefährtinnen einen reißenden Gebirgsbach ungekonnt überspringt, wartet nicht selten der Tod am Ufer; und wenn die Jungen beim Einüben von Bogenschießen oder Messerwerfen zu wenig Geschick einbringen oder wichtige Regeln nicht beachten, wird die Selbst- oder Fremdgefährdung so unmittelbar erlebt, dass spezielle erzieherische Maßnahmen entbehrlich sind. So werden die Kinder der San – ein in der Kalahari lebendes Buschmannvolk – von den Männern auf Streifzügen mitgenommen, wo sie in der Realität lernen, sich lautlos zu bewegen, regungslos auszuharren und das Wild an seinen Fährten auszumachen. Auch die Orientierung am Leben der Erwachsenen bringt den Kindern von Urvölkern wichtige Erfahrungen nahe. Wird ein Mann von der Jagd oder einem Fischfang tot ins Dorf zurückgebracht, erleben alle dieses Unglück hautnah. Die Beteiligten werden zu erkunden suchen, wie es dazu kam, und mit großer Ausdauer bemüht sein, geeignete Vorsorge zu treffen.
Ein weiteres Erfahrungsfeld: Streit, Eifersucht oder Konflikte im Zusammenleben der Familien und Paare haben immer auch etwas mit der ganzen Sippe oder Dorfgemeinschaft zu tun. So erfahren auch hier die Kinder, wie diese Probleme entstehen und mit welchen Mitteln sie gelöst werden. In solchen Ur-Gesellschaften besteht demnach kaum Bedarf, Grundsatzfragen über die richtigen Ziele und Mittel auf dem Wege zum Erwachsenwerden zu diskutieren oder Erziehung als bewussten Prozess zu initiieren.
Ein wenig oder nicht eingreifendes Erziehungsverständnis kann jedoch nur tauglich sein, wenn der dinglichen Welt und den mit uns lebenden Menschen auch der entsprechende Reaktionsraum gelassen wird. Zivilisierte Völker tendieren aber dazu, die Natur auszugrenzen, wichtige Erfahrungen im Umgang mit Sachzusammenhängen nicht zuzulassen und natürliche Reaktionen auf Verhalten von Kindern zu verhindern. In solchen Rahmenbedingungen führt das wichtige Prinzip des ›Gewährenlassens‹ automatisch in die Irrealität.
In Abgrenzung zu einer immer schon notwendig gewesenen Vorbereitung auf spezielle Aufgabenstellungen in der Gesellschaft – ob als Manager oder Lehrkraft, oder wie bei Platon als Wächter oder Regent – ist eine bewusste Erziehung eine Folge der Entfremdung von natürlichen Lebenszusammenhängen. Je größer die zivilisationsbedingte Distanz zum realen Leben, je differenzierter die Anforderungen in Beruf und Gesellschaft, desto umfangreicher müssen erzieherische
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