Die vierte Hand
unbedachten Kurs über die metaphysischen Dichter: unbedacht deshalb, weil sie hätte wissen müssen, daß eine solche »Kaste von Autoren«, wie Samuel Johnson sie genannt hatte, als er ihnen den Spitznamen »metaphysische Dichter« verlieh, hauptsächlich junge Frauen ansprechen würde. Unbedacht war auch, daß sie den Jungen in ihren reinen Mädchenkurs aufnahm; darauf war er unzureichend vorbereitet. Aber er war in ihr Büro gekommen und hatte Andrew Marvells ›An die keusche Geliebte‹ rezitiert und dabei nur das Reimpaar »Und meiner Liebe Frucht sie sprieße / Empor zum prächt'gen Baum sie schieße« vermasselt. Er sagte »Furcht« statt »Frucht«, und sie konnte seine Furcht fast mit Händen greifen, während er die nächsten Zeilen deklamierte.
Einhundert Jahre will ich preisen
Deine Augen, deiner Stirne Ehr erweisen;
Zweihundert Jahre deine Brüste rühmen;
Doch allem anderen dreißigtausend ziemen.
Mannomann, hatte sie gedacht, denn sie hatte gewußt, daß es ihre Brüste und alles andere waren, woran er dachte. Und so hatte sie ihn aufgenommen.
Als die Mädchen in dem Kurs mit ihm flirteten, hatte sie das Bedürfnis verspürt, ihn zu beschützen. Zunächst redete sie sich ein, sie wolle ihn lediglich bemuttern. Als sie ihn abschob - ebenso umstandslos, wie ihre schwangere Tochter von ihrem ungenannten Freund abgeschoben worden war -, hatte der Junge ihren Kurs abgebrochen und seine Mutter angerufen.
Die Mutter des Jungen, die dem Kuratorium einer anderen Universität angehörte, schrieb dem Dekan der Fakultät: »Fällt das Schlafen mit einem Studenten nicht unter die Kategorie ›moralische Verderbtheit‹?« Ihre Frage hatte zur Folge gehabt, daß Patricks einstige akademische Betreuerin und Liebhaberin ihrerseits ein Semester Urlaub nahm. Das ungeplante Freisemester, ihre zweite Scheidung, die ganz ähnlich gelagerte Schande ihrer Tochter... was sollte sie denn bloß tun? Ihr künftiger zweiter Exehemann hatte sich widerstrebend bereit erklärt, ihre Kreditkarten noch einen Monat lang nicht sperren zu lassen. Das sollte er schwer bereuen. Spontan fuhr sie mit ihrer vom Unterricht beurlaubten Tochter nach Paris, wo die beiden eine Suite im ›Bristol‹ bezogen; das Hotel war viel zu teuer für sie, aber sie hatte einmal eine Ansichtskarte davon erhalten und schon immer hinfahren wollen. Die Postkarte war von ihrem ersten Exmann gekommen - er war mit seiner zweiten Frau dort abgestiegen und hatte die Karte nur geschickt, um es ihr unter die Nase zu reiben.
Das ›Bristol‹ lag in der Rue du Faubourg Saint-Honoré, umgeben von eleganten Geschäften, wie sie sich nicht einmal eine Abenteurerin leisten konnte. Im Hotel angekommen, trauten sie und ihre Tochter sich nicht, irgendwohin zu gehen oder irgend etwas zu unternehmen. Sie kamen nicht mit der Extravaganz des Hotels zurecht. Im Foyer und in der Bar kamen sie sich zu einfach gekleidet vor und waren wie gebannt von den Menschen, die sich im ›Bristol‹ eindeutig sehr viel wohler fühlten. Dennoch gestanden sie sich nicht ein, daß es eine schlechte Idee gewesen war, hierherzukommen - jedenfalls nicht an ihrem ersten Abend. Ganz in der Nähe, in einer der kleineren Straßen, gab es ein recht nettes, preisgünstiges Bistro, aber es war ein regnerischer, dunkler Abend, und sie wollten früh zu Bett - sie litten unter Jetlag. Sie hatten vor, zeitig zu essen, und wollten Paris erst am nächsten Tag richtig in Angriff nehmen, aber das Hotelrestaurant war sehr beliebt. Sie würden erst nach neun Uhr einen Tisch bekommen können, eine Zeit, zu der sie schon fest zu schlafen hofften.
Sie waren hierhergekommen, um sich für das Unrecht zu entschädigen, das man ihnen beiden, jedenfalls in ihren Augen, angetan hatte; in Wirklichkeit waren sie Opfer der Unerfülltheit des Fleisches, wobei ihre eigenen zahllosen Unzufriedenheiten eine maßgebliche Rolle gespielt hatten. Ob verdienter- oder unverdientermaßen, das ›Bristol‹ sollte ihre Belohnung sein. Nun waren sie gezwungen, sich in ihre Suite zurückzuziehen und mit dem Zimmerservice vorliebzunehmen.
Der Zimmerservice im ›Bristol‹ hatte nichts Unelegantes - nur war das Ganze eben kein Abend in Paris, wie sie ihn sich vorgestellt hatten. Untypischerweise bemühten sich Mutter wie Tochter, das Beste daraus zu machen.
»Ich hätte mir nie träumen lassen, daß ich meine erste Nacht in Paris in einem Hotelzimmer mit meiner Mutter verbringe!« rief die Tochter aus; sie versuchte, darüber zu
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